„Ein Teil der Community ist gegangen“

Dramaturgin Brigitte Heusinger unterhält sich mit Arno Oevermann vom Rat-und Tatzentrum für queeres Leben e.V.

Brigitte Heusinger: Die Oper „Angels in America“ handelt von der Aids-Epidemie in den 80er Jahren. Im Vorfeld der Produktion habe ich mich mit der Schauspielerin Irene Kleinschmidt unterhalten, die vor 29 Jahren in dem gleichnamigen Schauspiel „Engel in Amerika“ mitgespielt hat. Sie hat mir erzählt, dass es damals einen engen Kontakt zwischen Theater und dem Rat&Tat-Zentrum Bremen gegeben hat.

Arno Oevermann: Aids war damals nicht behandelbar. Die Not der Betroffenen groß und die Angst vor Diskriminierung erdrückend und real. Aber es gab von Anfang an einen kämpferischen und aktivistischen Ansatz der HIV-Betroffenen. So war schon 1990 das Motto der Bundespositiven-Konferenz „Keine Rechenschaft für Leidenschaft“. Damals waren die Botschaften, das Klima viel politisierter. Es gab Stimmen, die dachten, dass Aids eine Erfindung und eine Unterdrückungsstrategie des Staates sei, um die Schwulen, also eine Personengruppe, die Verfolgungserfahrung hat, erneut zu stigmatisieren.

Es war eine neue Erkrankung …

Arno Oevermann: Damals hatte keiner den Überblick und die Einordnung und Bewertung der HIV-Krise stand am Anfang. So entstanden Ängste und natürlich begann die Suche nach der Schuld und Verantwortung. Und die Schuld wurde im Lebenswandel gesehen. Krebs kriegt man, Aids holt man sich, war eine Redewendung aus der Zeit. Für eine Aids-Erkrankung war man persönlich verantwortlich, für einen Herzinfarkt nicht. Und da es sich um eine vorwiegend sexuell oder durch Drogenkonsum übertragbare Erkrankung handelte, wurden die entsprechenden gesellschaftlich „schwachen“ Gruppen, erneut an den Rand geschoben, ausgeschlossen und extrem stigmatisiert. Es lief eine starke gesellschaftliche und moralisch geführte Debatte. Wir erinnern uns daran, dass es die Planung eines bayerischen Maßnahmenkatalog gab …

… mit Zwangstests für Prostituierte, Drogenabhängige und angehende Beamte. Franz Josef Strauß und sein zuständiger Minister Peter Gauweiler wollten Aidskranke sogar in speziellen Heimen separieren.

Arno Oevermann: Auf der anderen Seite stand glücklicherweise Rita Süssmuth als Bundesgesundheitsministerin. Sie wagte den Versuch, gemeinsam mit der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung und der Deutschen Aidshilfe, die sich zu der Zeit als Dachverband gegründet hat, einen Ansatz zu entwickeln, der Aufklärung und eigenverantwortliches Handeln in der HIV-Prävention in den Mittelpunkt stellte. Dem Ansatz, mithilfe der seuchenrechtlichen Maßnahmen gegen diese Erkrankung und den davon Betroffenen vorzugehen, erteilte sie eine Absage. Das war eine wichtige Weichenstellung im Umgang mit der neuen Erkrankung und die Initialzündung für die verschiedenen Interessens- und Betroffenengruppen, die dadurch eine Grundlage für einen Anspruch auf eine finanzielle Förderung erhielten. Auch das Rat&Tat-Zentrum für Homosexuelle, wie es damals hieß, konnte Mittel beantragen und so ein professionelles und hauptamtlich besetztes Beratungs- und Betreuungsangebot aufbauen. Inzwischen hat sich Rat&Tat weiterentwickelt und heißt jetzt Rat&Tat-Zentrum für queeres Leben. Damals erhielten wir ebenfalls einen Versorgungsauftrag für die HIV-Prävention und die psychosoziale Begleitung HIV-betroffener Personen. Aufklärung war damals ein wichtiger Baustein, um einen offeneren Umgang mit dem Thema Aids zu initiieren und Homosexualität aus der Tabuzone herauszuholen. Zielgruppenspezifische Aufklärungsmaterialen wurden entwickelt. Broschüren, Kampagnen und „Give aways“ erstellt. Sie thematisierten einen offenen Umgang mit den Übertragungswegen von HIV beim Sex („safer Sex“) und richteten sich mit eigenen Materialien an die unterschiedlichen Gruppen (schwuler safer Sex, heterosexueller safer Sex und safer use für Drogengebrauchende). Der Ansatz bestand darin, dass möglichst alle betroffenen Gruppen mit eigenen Materialen angesprochen werden, um sie bestmöglich präventiv zu erreichen.

Wie sah es in den 80er, 90er Jahren in Bremen mit HIV aus?

Arno Oevermann: Ich bin seit 1989 in der Aids Beratung bei Rat&Tat tätig, erst als Honorarkraft, dann in Vollzeit. Wir haben über 100 Personen in der Zeit begleitet, natürlich unterschiedlich intensiv und unterschiedlich lange. Im Rat&Tat-Zentrum gibt es eine Erinnerungstafel, die mit Todesanzeigen und Botschaften von betroffenen Personen gefüllt ist. Sie soll an die Personen und Schicksale erinnern und an die kollektive Herausforderung dieser Zeit. Es gibt einige Menschen, an die ich regelmäßig denke. Ich bin ja selbst ein Teil der Community und ein Teil der Community ist gegangen und wird vermisst. Wir, die heute älter werden, merken diese Lücke. Es ist auch ein Geschenk, das überlebt zu haben.

Wie sieht es in Bremen jetzt mit HIV aus?

Arno Oevermann: Die absolute Zahl der Menschen, die mit HIV leben, ist eher ansteigend als abnehmend. Sie nimmt bei den schwulen Männern ab, steigt bei den drogengebrauchenden Konsumentinnen und Konsumenten zurzeit aber an. Jedes Jahr steigt in Bremen die Gruppe der betroffenen Personen um etwa 30 an, die HIV-positiv getestet wird. Die meisten sind durch die Behandlung dann schnell wieder in einer stabilen Situation. Schwieriger ist es für die Menschen, die schon in einem fortgeschrittenen Stadium der Krankheit waren, als die besser wirksamen und verträglicheren Kombinationstherapien eingeführt wurden. Ich bin heute noch regelmäßig in einem Pflegeheim in der Reuterstraße zu Besuch bei pflegebedürftigen HIV-Betroffenen. Es ist eine skurrile Situation, einige Personen leben dort schon seit über zwanzig Jahren. Sie sind vom Lebensalter die Jüngeren, aber sie sind von der Aufenthaltsdauer dort am längsten wohnend.

Der wichtige Wendepunkt war 1996, als dann Kombinationstherapien auf den Markt kamen und die HIV-Infektion besser behandelbar wurde.

Arno Oevermann: Ja, wir sind jetzt eine ganze Dekade weiter. Medizinisch gibt es nicht mehr die großen Probleme, wenn die HIV-Infektion früh erkannt wird. Heute finde ich es manchmal erstaunlich, wie es für die Jüngeren möglich ist, dieses alte HIV gar nicht mitzudenken. Sie haben diese herausfordernde und bedrohende Zeit nicht selbst durchlebt und können leichter mit der nun behandelbaren HIV-Infektion und deren Folgen umgehen. Deswegen müssen wir manchmal schon wieder mahnen und sagen, passt auf, schützt euch und lasst euch regelmäßig auf HIV und andere sexuell übertragbaren Erkrankungen testen. Denn die Diskriminierung ist nicht verschwunden und begegnet den Betroffenen durchaus heute noch, wenn sie ihre HIV-Infektion offen mitteilen.  

 

 

Veröffentlicht am 14. April 2023