King Arthur: Raumnahmen und andere Strategien

Ein Gespräch zwischen Regisseur und Performer Schorsch Kamerun und den Dramaturginnen Isabelle Becker und Theresa Schlesinger.

Isabelle Becker: Wir beschäftigen uns schon eine ganze Weile mit der Semiopera King Arthur von Henry Purcell – ursprünglich geplant als spartenübergreifende Produktion auf der großen Bühne des Theater Bremen, jetzt zuerst als Teil 1 und als ein großes Konzertinstallations-Spektakel auf dem Goetheplatz mit Schauspieler*innen, Sänger*innen und Jungen Akteur*innen. Ein besonderes Stück Musiktheater, das zwar über 300 Jahre alt ist, uns aber interessanterweise immer noch mit ähnlichen Fragen konfrontiert …

Schorsch Kamerun: Genau. Was ist Macht? Oder grund-einfach gefragt, wer hat wem was zu sagen? Das waren ganz verkürzt die Fragen, die mich bei der ersten Beschäftigung sofort interessiert haben. Auch geht es um die Frage nach der Aufteilung von Welt. In dieser Erzählung von King Arthur gibt es zwei Parteien, die miteinander ringen. Der britische König Arthur gegen den Sachsenkönig Oswald. Und beide behaupten, dass sie ihre Völker vertreten. Sie sind natürlich keine gewählten Vertreter, sondern Regenten, die gleichzeitig auch Kriegsherren sind. Nur um was ringen sie? Um Territorium. Und ich frage mich sofort, ob das heute immer noch so ist? Ich finde den Begriff der „digital nomads“ spannend. Gerade in einer globalisieren Welt, die manchen überkomplex erscheint. Falls man auf starres Grenzendenken verzichten mag, kann man fluid wirken. Mit einem Pass mit dem goldenen Adler kannst du – obschon privilegiert – globalisiert teilnehmen und musst eigentlich kein Territorium erringen. Damals wurde Territorium gleichgesetzt mit Wert.

Theresa Schlesinger: Es geht ganz klar um Besitzansprüche, die sich an ein Territorium knüpfen. Wer aber über Territorien spricht, entscheidet auch immer über ganz viele Menschen, die sich auf diesen Territorien befinden und auch entsprechende Privilegien haben. Wir können auch nur sagen, dass wir uns als digital nomads bewegen, weil wir ja an einem bestimmten Ort geboren, sozialisiert und aufgewachsen sind.

Schorsch Kamerun: Das meinte ich eben mit „dem goldenen Adler“.

Theresa Schlesinger: Deswegen beanspruchen wir vielleicht die ganze Welt als Territorium, aber viele andere haben das Privileg ja überhaupt nicht.

Isabelle Becker: Und zumal die Grenzen wieder stärker behauptet und der Abschottungsgedanke erneut in unser Bewusstsein gerückt ist. Allein der Satz „Land XY macht seine Grenzen dicht.“ ist uns in den letzten Jahren wieder häufiger begegnet.

Schorsch Kamerun: Ich würde auch sagen, es gibt eine große Wiederkehr von archaischen Mustern. Das ist längst nicht überwunden. Das erfahren wir bei den Neopopulisten und den neuen Autokraten, die überall auf der Welt aufploppen. Ob sie nun Trumps oder Orbáns oder Bolsonaros heißen, sie erleben auf der ganzen Welt eine Renaissance. Das hat viel mit der Sehnsucht nach den einfachen Lösungen zu tun und ist zentrales Motiv des Populismus. Ihre Methode ist: Ich streue die Ängste des Nicht-Kontrollierbaren und halte dann die starke Hand hin. Das gilt es zu verstehen. Der Mensch möchte kontrollieren. Er mag keine Überraschungen, so wie damals als er vom sicher geglaubten Baum gestiegen ist.

Theresa Schlesinger: Das steckt ja auch bei uns im Stück drin. Ich finde es spannend, dass dieser Wunsch nach Kontrolle und eben auch das Nicht-Aushalten können von Ambivalenzen, auch viel damit zu tun hat, wovon wir ausgehen. Also was wir denken, wie es zu sein hat und welche Erzählungen uns auch eingeschrieben sind.

Isabelle Becker: Stimmt. „Krieg ist das Geschäft von Königen“; heißt es im Stück. Auf der anderen Seite merkt man, dass die Regenten neben den territorialen Ansprüchen in Wahrheit ganz andere – höchst private – Motive verfolgen.

Schorsch Kamerun: Ja genau, in ihrer Stellung als Könige können sie vermeintlich gar nicht anders, als Kriegsherr zu sein. Beim tieferen Eintauchen kommt man aber darauf, dass es eben gar nicht stimmt, dass sie „ihr Volk“ oder die, die hinter ihnen Stehenden im Blick haben. Sondern es geht um egozentrische Belange, um Eitelkeiten, um Gier und verbissene Konkurrenzen. Wirklich interessant, dass die Beiden irgendwann mal gemeinsam gegen die Pikten (ein schottisches Volk) in den Krieg gezogen sind, sie folglich Freunde waren, und dieser Männerbund wieder getrennt wurde – was ja heute auch immer wieder ein Motiv ist. Weiterhin wird behauptet, ich vertrete hier meine rechtmäßige Macht und Ideologie. In Wahrheit geht es um Ellenbogen, Status und Narzissmus.

Isabelle Becker: Ja, beide kämpfen letztlich um die gleiche Frau: Emmeline, die der Textdichter John Dryden der ursprünglichen Artus-Geschichte frei hinzu erfunden hat. Ein besonderer Kniff ist, dass sie anfänglich eine blinde Figur ist, die später sehend wird. Aus Sicht der Männer ist sie ganz klar eine Trophäe. Viel interessanter ist aber, dass sie eine Figur ist, die infrage stellt. Noch bevor sie sehen kann, wundert sie sich über dieses Kriegsgehabe und darüber, warum alle kopflos und wie blind dem Klang der Kriegstrompete in die Schlacht folgen.

Schorsch Kamerun: Emmeline ist eine, die die anderen entlarvt. Bei uns ist sie nicht wirklich blind. Wir nehmen das als eine Metapher dafür, dass sie „ihre Augen öffnet“, sie die Welt erkennt, wie sie wirklich ist. Sie entlarvt zum Beispiel, dass Arthur doch eigentlich nur Kriegsherr sein will und immer in seinem Kern-Geschäft bleibt. Er sagt ja am Anfang, gib mir noch einen Kuss mit auf den Weg, ich muss aber jetzt los in den Krieg. Es geht ihm letztlich doch um die Demonstration von Stärke. Das hat natürlich etwas mit der Entstehungszeit zu tun, das ist aber auch der Mensch. Er hat zwei Gesichter. Genau das erkennt Emmeline in einer zentralen Spiegelszene, dass der Mensch diese zwei Seiten hat und das es diese Gleichzeitigkeiten gibt, nimmt sie auch in ihrem eigenen Selbst wahr.

Theresa Schlesinger: Ich empfinde Emmeline als die stärkste Figur. Ich glaube, ihre Stärke liegt für mich vor allem darin, die Ambivalenzen zu erkennen, das System und sich darin zu reflektieren und das dann auszuhalten. Also tatsächlich diese Widersprüche deutlich zu machen, sich zu verorten und zu merken, ich kann da gar nicht raus. Ich kann gar nicht das Gegenbeispiel sein, wie soll ich mich denn dem System entziehen, ich bin ja ein Teil davon. Das alles würde trotzdem so weiterlaufen, auch wenn ich es boykottiere.

Schorsch Kamerun: Als Hobbyneurologe weiß ich: Du musst in Beziehungen stehen. Nur das reibende Abgleichen, das emphatische Erkennen im gegenseitigen Miteinander macht den Menschen komplett und verschafft ihm soziale Intelligenz und Verträglichkeit.

Isabelle Becker: Resonanzräume nennt Hartmut Rosa sie. Kultur entstehe eben genau durch das Gehen von Umwegen, gerade durch zufällige oder irritierende Begegnungen.

Schorsch Kamerun: Und das ist es, was Kunst auch können muss. Sie muss neue Resonanzräume schaffen, sie muss mehr Bühnen zum Sich-Unterhalten schaffen. Selbstverständlich streitbare Foren. Wir müssen es auch ungesichert meinen, was wir da anbieten. Wir sind ja kein Museum. Der Bildungsauftrag muss dabei radikal ausprobieren. Unsere luxuriösen Theater gehören den Bürger*innen und sind somit Häuser, die aufgefordert sind, sichtbare Diskursräume zu sein, die sich nicht hinter festgelegten Rollenspielen verstecken. Sie müssen sich und Gesellschaft konstant überprüfen und auch infrage stellen.

Theresa Schlesinger: Wie würdest du die Theaterform draußen auf den Goetheplatz, die du schon viel erprobt hast, beschreiben wollen …

Schorsch Kamerun: In unserer Form ist es eine Überblendung, von dem, was es schon gibt, und meine Methode ist es, Sinnlichkeiten assoziativ und symbolisch übereinander zu legen. Das heißt, man zeigt etwas und dann ersetzt man eine sicher geglaubte Ebene. Also den Ton einer Spielszene wegnehmen und man legt einen anderen darüber. Um damit auch ungesicherte Zusammenhänge aufzudecken. Ganz konkret trifft hier Purcells Musik auf selbst geschriebene Songs, Schauspielszenen auf assoziative Bilder zu Macht und Raumnahme. Das ist unsere Strategie: Was passiert sind meist exemplarische Dinge, die sich in wiederkehrenden Inhalten erzählen – nur treffen sie auf eine andere Wahrnehmung. Aber es geht mir nicht – und das ist immer der Irrtum – um das Zertrümmern von etwas, sondern um das Freilegen und Neudeuten von angeblichen Gesetzmäßigkeiten. Dann erst kann es utopisch werden – manchmal.