Roadtrip und Selbstbefragung
Unsere Dramaturgin Marianne Seidler hat für das Jahrbuch 2021 von Theater heute einen Text über die Uraufführung Milchwald geschrieben. Wir freuen uns, dass wir ihn hier zweitveröffentlichen dürfen.
Lapis Lydius ist ein kleiner Stein, der zur Feststellung des Reinheitsgrades von Edelmetallen benutzt wird. Ein Prüfstein. Er muss stets sauber sein und vor der Prüfung mit Mandelöl eingefettet werden. Vermutlich würde man der Hauptfigur, Dylan, mit dieser Erklärung nichts Neues erzählen, denn er ist ein grenzenlos Wissender. Dylan ist ein Mann in den Vierzigern mit einschlägiger linksaktivistischer Karriere und philosophischem Background. Fritz Kater hat diese Figur für Simon Zigah aus dem Ensemble des Theater Bremen geschrieben. Dylan changiert zwischen der Unsichtbarkeit, dem Erzähler und dem Drahtzieher der Geschichte von Milchwald.
Aber von vorn.
Bremen 2020: Der Tschetschenin Laila, die seit fünf Jahren mit ihren Kindern in der Großstadt am Fluss lebt, die dennoch von so vielen als Dorf verstanden wird, droht die Abschiebung. Laila kümmert sich regelmäßig um Frau Niebuhr, eine an Demenz erkrankte Tänzerin, die in einem Altbremer Haus lebt. Sie ist das deutsche Porträt einer 68er Künstlerin. Als Laila tatsächlich abgeschoben wird, sammelt Frau Niebuhr all ihren Mut und die letzten gesunden Zellen zusammen, geht in die Vorlesung der Professorin Delia und fleht sie an: Laila und ihre Kinder müssen zurückgeholt werden. Während Frau Niebuhr sich wieder in ihren Hort der Sicherheit, ihren Kleiderschrank zurückzieht, treten Benni, ihr Sohn, seine Freundin, Professorin Delia und Sylvester, ein Paketbote, die Flucht nach vorn an und reisen nach Polesien.
Spätestens an dieser Stelle breitet der Text die Flügel aus, erweitert die Bremer Erzählung, die immer wieder von Lokalkolorit durchzogen ist, um eine universellere Komponente.
Mal zurückhaltend, mal ganz offensichtlich führt Dylan die drei durch die Odyssee, voller Irrwege, Trampelpfade und Selbstbefragungen. Jede:r dieser Figuren würde sich selbst als links definieren, angesiedelt auf verschiedenen Achsen des Begriffsspektrums. So unterschiedlich ihre Motivationen und ihr Denken auch sein mögen, es vereint sie die Auffassung, die Welt als veränderbar zu verstehen.
Eine Standortbestimmung
Für Fritz Kater ergibt sich das Verständnis für einen Ist-Zustand immer aus dem Rückgriff auf Vergangenes. Das Hier und Jetzt wird immer wieder gebrochen, von historischen Schichten überlagert, um dann wieder in der absoluten Gegenwart zu landen. Dabei funktioniert diese besondere Landschaft, Polesien, ein riesiges Sumpfgebiet zwischen Polen, der Ukraine, Russland, Weißrussland und Litauen, wie eine Kulisse extrem kondensierter polnischer und deutscher Geschichte. Vor dieser entblättern sich nicht nur die politischen Biografien, sondern auch deren Vexierbilder: Fast alle Figuren spielen auch Polizist:innen oder Frontex-Mitarbeiter:innen. Zeitliche Sprünge und Verschneidungen, Ortswechsel, Cliffhänger, Dialoge und dazwischen sehr dichte Monologe lassen Milchwald zu einer temporeichen Parabel werden.
Immer wieder erinnert diese an das Motiv der Bremer Stadtmusikanten, die miteinander Reisenden und doch nie Ankommenden.
Fritz Kater lässt uns aus verschieden Blickwinkeln auf die Geschichte Lailas schauen. Dabei kreuzt er die Gründe der Protagonist:innen, vor ihrem Leben zu fliehen, mit der Umkehrbewegung Lailas, ihrer ganz realen Not, zurück in ihr Leben nach Bremen zu wollen. Benni, Delia und Sylvester sind auf dieser Reise zunächst ganz unbemerkt dazu gezwungen, sich selbst zu überprüfen. Ihre Ideale mit ihrem Handeln abzugleichen. Sie sind Suchende. Gleiches könnte man vom Autor selbst behaupten. So wie Dylan die drei auf den Prüfstand stellt, nach der Reinheit ihrer Ideale befragt so könnte man auch den Autor befragen: Passt die innere Welt noch zu der äußeren? Die These, dass er sich, genau wie Delia, Sylvester und Benni in einem Lernprozess befindet, überzeugt. Sein Text ist eine Standortbestimmung, eine Überprüfung der generationalen Zugehörigkeit und ein Abklopfen des eigenen linken Selbstverständnisses und seiner vermeintlichen Sicherheiten. Wo führt das alles hin? Der Ausgang ist noch unklar. Gibt es ein Zurück? Ein Wiederankommen? Wird Laila ihre neue Heimat, Bremen, wieder betreten können?
Und finden die Stadtmusikanten das, wovon sie nicht mal wissen, dass sie es suchen?
Obwohl sich dieser Milchwald so dicht und ereignisreich zeigt, bleibt erfreulicherweise vieles im Ungefähren. Doch eines ist sicher: Gerade die zwei so hilfsbedürftig erscheinenden Frauen, Laila und Frau Niebuhr, sind es, die der Prüfung standhalten und mir ihrem Zusammenhalt dafür sorgen, dass ein wichtiger Teil Lailas weiter in Bremen leben darf.
Veröffentlichung: 17.12.21