Schwarmintelligenz

Bei „Fabula“ stehen sieben Tänzer:innen und fünf Musiker:innen gemeinsam auf der Bühne. Ein Teil davon ist die belgische Band Zwerm. Der freie Journalist und Musikexperte Andreas Schnell stellt Zwerm vor.

Große Erwartungen stehen sozusagen am Anfang dieser kleinen Geschichte um ein belgisches Gitarrenquartett. Great Expectations ist nämlich der Titel des jüngsten Albums der Gruppe Zwerm. Was ziemlich ironisch klingt angesichts des Umstands, dass besagtes Album in den ersten Monaten der globalen Covid-19-Pandemie entstand. Sozusagen in den Homeoffices der Musiker, die aus den leider bekannten Gründen nicht zusammen proben konnten.

Zwerm, zu Deutsch: Schwarm

Zwerm, zu Deutsch: Schwarm, sind Toon Callier, Bruno Nelissen, Kobe van Cauwenberghe und Johannes Westendorp, seit einigen Jahren um Schlagzeugerin Karen Willems verstärkt. Sie können durchaus laut werden, wie eine veritable Rock-Formation. Gelegentlich erinnert das an verschachtelten Progrock, anderswo lassen eher offene Strukturen an die Errungenschaften von Post-Rock denken, das Spiel mit repetitiven Elementen an Minimal Music. Das deutet schon eher an, wo Zwerm herkommen: Kennengelernt haben sich die vier Gründer am Konservatorium, ihr gemeinsamer Hintergrund ist die zeitgenössische klassische Musik. Die Liste ihrer Arbeiten umfasst derweil zwar auch ein Projekt mit Renaissance-Musik, wir finden dort aber auch Kooperationen mit Stephen O'Malley, bekannt vor allem als eine Hälfte des experimentellen Metal-Duos Sunn O))), der umtriebigen Avantgarde-Ikone Fred Frith, Auftritte auf Jazz-Festivals, Interpretationen von bekannten (Steve Reich) und weniger bekannten (Julius Eastman) Protagonisten der Minimal Music – und immer wieder auch Arbeiten am Theater, wo sie vor einigen Jahren Etienne Guilloteau kennenlernten. Der wiederum der Partner der in Brüssel lebenden Choreografin Claire Croizé ist, mit der Zwerm in Bremen derzeit an dem Stück Fabula arbeiten. Croizé trat mit der Idee an Zwerm heran, Great Expectations zur Grundlage einer Arbeit im Tanz zu machen.

Der Albumtitel war dabei keineswegs ironisch gemeint, erklärt die Band:

Dass aus den Erfahrungen der Covid-19-Pandemie vielleicht ein gesellschaftliches Innehalten entstehen könnte, ein Neuanfang mit Lehren aus der Vergangenheit, lag damals als Hoffnung in der Luft des virtuellen Proberaums. Allerdings ist schon die dort entstandene Musik nicht mehr so ganz eindeutig. Kompositorisch stand die Beschäftigung mit Zwischentönen im Mittelpunkt der Arbeit, genauer: mit Konzepten von Mikrotonalität. Darunter versteht man grob gesagt tonale Systeme, die über mehr Zwischenschritte verfügen als die klassische westliche Musik. In der klassischen indischen, persischen und arabischen Musik oder auch in der indonesischen Gamelan-Musik sind Vierteltöne gang und gäbe.

Seit der Entstehung von „Great Expectations“ ist die Welt weniger in den alten Trott verfallen als vielmehr noch ungemütlicher geworden.

Für ihre Experimente benutzten Zwerm nicht nur ihre Gitarren und Stimmen, sondern auch ein altes Klavier, das sich dankenswerterweise ganz von selbst eine mikrotonale Stimmung zugelegt hatte, aber auch traditionelle Instrumente wie die türkische Vierteltonlaute Saz oder die vor allem im westlichen Nordafrika gespielte Gimbri. Dass seit der Entstehung von Great Expectations die Welt weniger in den alten Trott verfallen als vielmehr noch ungemütlicher geworden ist, mag der Grund dafür sein, dass Croizé in ihrer mit den Unusual Symptoms erarbeiteten Choreografie Fabula die Erkundung „widersprüchlicher Gefühle angesichts des Zustands der Welt“ aufs Programm gesetzt hat: „Wut und Verzweiflung, Freude und Lust“. Die spielerische Offenheit von Great Expectations allerdings enthält immer noch den, wenn schon utopischen, dann aber doch optimistischen Kern von Aufbruch und wischt ganz nebenbei auch die alten Fragen nach E- oder U-Musik mit einem freundlichen Lächeln vom Tisch, um auch musikalisch den Weg freizumachen für neue Ideen.

 

 

 

Veröffentlicht am 14. März 2023