Searching for Ottessa

Wer ist Ottessa Moshfegh? Eine Spurensuche nach der „Eileen“-Autorin von Produktionsdramaturgin Theresa Schlesinger.

In einer Folge des Podcasts Selected Prose aus dem Mai 2021 beschreibt die US-amerikanische Autorin Ottessa Moshfegh ihren Schreibprozess als eine Form des Method Acting: „Beim Schreiben versuche ich zu einer anderen Person zu werden, durch sie zu sprechen und sie durch mich sprechen zu lassen.“ Sie stellt sich und ihren Körper, ihren Geist und ihr Schreiben zur Verfügung, wird zu einer Art Medium für ihre Figuren. Sie begibt sich durch ausgiebige Recherche tief hinein in deren Welt und Kopf, sie muss die Gedanken der Figuren hören, die Verlagerung spüren, die sich in ihr ausbreitet, um sie dann aufzuschreiben. Während der Arbeit an ihrem ersten Buch McGlue, über den alkoholkranken Seemann McGlue aus dem Jahr 1851, der seinen besten Freund Johnson im Rausch ermordet haben soll, betrachtete sie sich immer wieder selbst in dem großen Spiegel, der hinter ihrem Schreibtisch stand. Sie beobachtete, wie sie und der Ich-Erzähler ihrer Geschichte immer mehr zu einem wurde, betrachtete ihre Körperhaltung, ihre Bewegungen, analysierte die eigenen Reaktionen auf das Geschriebene, wurde zur Zeugin der eigenen Transformation. Lässt sich diese Methode auch auf die Autorin selbst anwenden? Wie wäre es, Ottessa Moshfegh zu sein? Wie bewegt sie sich durch die Welt? Wie sieht sie ihre Umgebung, ihre Mitmenschen, sich selbst?

Kann ich mich ihr zur Verfügung stellen und hier ihre Gedanken, ihre Sicht auf die Welt, ihre Arbeit durch mich hindurchfließen lassen und schließlich zu Papier bringen?

Ottessa Charlotte Moshfegh wurde am 20. Mai 1981 in Boston geboren. Sie ist eine US-amerikanische Schriftstellerin und erhielt schon mehrfach Auszeichnungen für ihre Arbeit. Mit ihrem Verlobten, dem Schriftsteller Luke Goebel, lebt sie in Südkalifornien. Sie ist die Tochter eines iranischen Violinisten und einer kroatischen Bratschistin, die sich an einer belgischen Musikschule kennenlernten. Obwohl die Familie ursprünglich im Iran leben wollte, wanderte sie in die USA aus, wo Moshfegh schließlich geboren wurde. Sie wuchs in Newton, Massachusetts, auf. Von 1998 bis 2002 absolvierte sie erfolgreich ein Bachelorstudium am Barnard College in Englisch und Kreativem Schreiben. Von 2009 bis 2011 folgte ein Masterstudium Kreatives Schreiben an der Brown University. Diese Informationen sind leicht zu finden. Sie fliegen einem geradezu entgegen, wenn man die Buchstaben ihres Namens in eine beliebige Internetsuchmaschine eingibt oder sich auf der letzten Seite eines ihrer Bücher die Kurzbiographie durchliest.

Sie öffnen eine kleine Tür zu dieser Person, die Ottessa Moshfegh ist.

Aber es braucht es mehr. Auf der Musikplattform Spotify ergibt die Suche nach Ottessa Moshfegh insgesamt 90 Folgen, in denen man sich entweder ein Gespräch mit ihr oder ein Kommentar zu einem ihrer Bücher anhören kann. Die meisten haben eine Länge von 30 bis 40 Minuten. Ich höre mir insgesamt acht dieser Folgen an. Ich höre, was Ottessa zu sagen hat und begebe mich hinein in den Kosmos von Gedanken und Gefühlen. Stunden- und tagelang habe ich ihre Stimme im Ohr, während ich durch die Straßen gehe, meine Zähne putze, vor dem Computer sitze oder im Supermarkt durch die Gänge schleiche.

„Ist es nicht seltsam, dass wir zur gleichen Zeit versuchen unsere Makel zu lieben und trotzdem danach streben perfekt zu sein?“

Sie ist sanft, Ottessas Stimme, angenehm und vehement, bestimmt. Ihre Wortwahl literarisch, aber nicht steif. Sie wirkt sympathisch, aber nicht anbiedernd. Authentisch. Sie spricht bedacht, nicht schnell oder unüberlegt und auch ohne viele Füllwörter. Sie ist witzig, hat einen dunklen Humor. Dann und wann verliert sie sich in ihren Gedanken, ist sich aber auch nicht zu schade nachzufragen, worum es nochmal ging. Ich kann ihr gut folgen. Vielleicht haben mich ihre Gedanken auch vorher schon beschäftigt, vielleicht waren wir in unseren Fragen an die Welt unwissentlich schon länger vereint, vielleicht spricht Ottessa aber auch etwas in mir an, was ich vorher immer unterdrückt hatte, was leise in mir ruhte und nun endlich ausgesprochen wird. In jedem Fall begleiten mich ihre Worte nach den vielen Stunden, die ich mit ihr verbringe von da an unablässig. „How is it that we even fucking exist? Why are we not freaking out about it?“ (Wie kommt es, dass wir überhaupt existieren? Und wieso erschreckt uns das nicht?) Ich möchte fast jeden zweiten Satz mitschreiben und höre deshalb viele der Interviews mehrmals hintereinander. So schreiben sich die Worte besser ein, ich kann sie mir merken und später daran zurückdenken. Irgendwann merke ich, wie ich langsam Ottessas Sprechgestus beginne zu adaptieren. Nach ein paar Tagen beginne ich sogar, auf Englisch zu träumen. Ich bin ihr so nah, dass ich mich im Spiegel fast nicht mehr selbst erkenne.

Meine Realität verschwimmt und verschneidet sich mit der von Ottessa.

In einem Porträt für den New Yorker beschreibt die Journalistin Ariel Levy Moshfeghs Werdegang. Sie beschreibt einen aufregenden Lebensstil, eine getriebene junge Frau, die nach dem College-Abschluss 2002 alle paar Jahre umzieht. Erst nach Wuhan, China, wo sie Englisch unterrichtet und in einer Punk Bar arbeitet. Hier beginnt nun eine Faszination, die vielleicht schon länger Wurzeln schlägt, zu wachsen: Ottessas Verbindung zum Tod. Sie beschreibt ihre Verlorenheit, allein in der chinesischen Hitze. Ein Gefühl davon, das eigene Leben zu verschwenden, zu sterben, während man auf irgendetwas wartet, das einfach nicht einsetzt. Irgendwann stolpert sie im Internet über das Bild einer toten Person und spürt einen plötzlichen Adrenalinschub: „Es gab mir das Gefühl, dass das Leben unglaublich wertvoll ist, und gleichzeitig war es aufregend, etwas so Privates zu sehen – eine Art Todesporno.” Mich fasziniert wiederum Ottessas Faszination für den Tod. Ich verstehe sie und nehme die Fährte auf.

Ich möchte mehr darüber erfahren, mehr hören über Ottessas Verhältnis zum Tod, zu Vergänglichkeit, Ekel und Verwesung.

Ich suche nach Bildern und Videos von Ottessa, die ja auch schon längst vergangen sind, ein Zeugnis vergangener Momente. Auf Youtube findet sich eine Aufzeichnung einer kurzen Lesung aus ihrem Band von Kurzgeschichten mit anschließendem Gespräch. Ottessa trägt ein schwarzes Oberteil. Die Haare sind zur Hälfte locker nach hinten arrangiert. Beim Lesen schaut sie immer wieder auf, blickt ins Publikum, lächelt über das gerade Gelesene. Ihre braunen leuchtenden Augen blicken dann etwas schüchtern, aber wissend nach vorn – sie scheinen nach Reaktionen zu suchen, nach Verbundenheit. Versteht ihr, was ich meine? Findet ihr nicht auch? Später im Video sitzen die drei Gäste, Ottessa, die Autorin Rachel Kushner und Schriftsteller Colm Tóibín auf weißen Sesseln und stellen sich den Fragen des Publikums. Eine Zuschauerin meldet sich zu Wort: „Sie stellen in ihren Arbeiten den menschlichen Körper als etwas Beunruhigendes und vielleicht von Natur aus leicht Groteskes dar. Und ich habe mich gefragt, wo dieses Interesse für Sie liegt und ob die Arbeit an dieser Groteske und dem Ekel für Sie vielleicht etwas bewirkt, was andere Arbeiten nicht tun.“

Ottessa schmunzelt. Sie scheint sich zu freuen über die Frage. Beim Antworten hält sie das Mikrofon in einer Hand, der Ellbogen ist auf die Lehne des Sessels gestützt, die andere Hand bewegt sie als Untermalung des Gesagten leicht.

„Das Prinzip Ekel existiert ja, um uns vor Krankheiten zu schützen, also letztendlich vor dem Tod. Sich diesem Ekel ganz und gar zu stellen und alles daraus heraus zu holen, was ich kann, ist meine Art zu sagen: Ich habe keine Angst vor dem Tod.“

 

 

Veröffentlichung: 17.1.21