Zwischen Sexarbeit, Behördengängen und Verantwortung
Gregor Runge stellt anlässlich des Weltfrauentags die Arbeit von Nitribitt e.V., der Bremer Beratungsstelle für Sexarbeiter*innen, im Gespräch mit Bea Augustin vor.
Welche Bilder rufen wir auf, wenn wir an Sexarbeit denken? Gemeinsam mit der Bildenden Künstlerin und Filmemacherin Luisa Eugeni und der Tänzerin Alexandra Llorens wirft Alexandra Morales, meine Kollegin im Leitungsdoppel der Tanzsparte, in einem Filmprojekt einen choreografischen Blick auf eine von kontroversen Debatten geprägte Lebenswelt. Seit sie 2013 als Übersetzerin an Lola Arias' Produktion The Art of Making Money mitarbeitete, hält Morales engen Kontakt zu Nitribitt e.V., einer Bremer Beratungsstelle für Sexarbeiter*innen. Für den Verein arbeitet sie seitdem weiter als Übersetzerin. Aus ihren Begegnungen mit Bremer Sexarbeiter*innen hat sie sich nun zu einem eigenen Projekt inspirieren lassen, das Ende März online zu sehen sein wird. Ich möchte mehr über die Arbeit von Nitribitt e.V. erfahren und treffe mich zum Gespräch mit Bea Augustin, die sich gemeinsam mit ihrer Kollegin Sagitta Paul für die Belange von Sexarbeiter*innen in Bremen einsetzt.
Die Anfänge von Nitribitt e.V. liegen in einem Projekt, das 1987 durch Sozialarbeiterinnen des Bremer Gesundheitsamtes initiiert wurde.
Noch im Herbst desselben Jahres folgte gemeinsam mit aktiven und ehemaligen Sexarbeiter*innen die Gründung des Vereins in seiner heutigen Form. Heute hat der Verein zwei feste Mitarbeiterinnen, eine 450-Euro-Kraft für Verwaltungsaufgaben und eine Praktikantin, der Rest läuft ehrenamtlich. Bea Augustin stieg im Alter von 28 Jahren in die Sexarbeit ein, Anfang der Neunziger Jahre. Zwölf Jahre blieb die gelernte Arzthelferin im Beruf. „Ich wohnte damals in Hamburg auf dem Kiez und hatte meine Ausbildung in Altona gemacht. Als ich mich dann dazu entschied, in der Prostitution zu arbeiten, wollte ich das natürlich nicht vor meiner eigenen Haustür tun.“ In den ersten Jahren pendelte sie zwischen Hamburg und Bremen, gemeinsam mit Kolleg*innen, die mit ihr zu diesem Zeitpunkt in der Bremer Helenenstraße arbeiteten. Später arbeitete sie ausschließlich im Hafen, kündigte ihre Hamburger Wohnung, zog nach Bremen. Erzählt sie von ihrer Arbeit in der Bremer Überseestadt, klingt das nach einer lebhaften, mehrere Generationen umspannenden Community und einem eher von freundschaftlicher Kollegialität als Konkurrenz geprägten Arbeitsumfeld. Dort, im Hafengebiet, lernte sie früh die Streetworkerinnen von Nitribitt e.V. kennen, die aus einem alten Bauwagen heraus vor Ort aktiv waren. Einmal monatlich organisierten sie ein offenes Frühstück. Es gab zunehmend Anfragen im Rahmen der Öffentlichkeitsarbeit des Vereins, Bea Augustin wurde im Laufe der Jahre zu einer viel gefragten Ansprechpartnerin, gab Interviews für buten un binnen und verschiedene Zeitungen.
Im Ensemble von The Art of Making Money war sie vor einigen Jahren als lebhafte Erzählerin auf der Bühne des Theater Bremen zu sehen.
Mich interessiert, ob die Arbeit von Nitribitt e.V. zu Beginn auf Vorbehalte stieß und bin nicht überrascht, dass diese Frage keiner Vergangenheitsform bedarf: „Wie die Mitarbeiter*innen von damals die Situation erlebt haben, kann ich aus heutiger Perspektive gar nicht mehr nachvollziehen. Ich weiß aber natürlich, welche Kämpfe wir immer wieder führen, seit ich aktiv im Verein mitarbeite.“ Ab 2009 war sie im Vereinsvorstand, seit 2015 ist sie in Teilzeit fest angestellt. Wir sprechen über den Kampf um Gelder und Akzeptanz, um die Auseinandersetzung mit manchen Frauenrechtsvereinen, die Sexarbeit mit einer wenig akzeptierenden Haltung gegenüberstehen und „uns extrem auf die Finger schauen.“ Bea Augustin legt großen Wert darauf, dass der Verein mit Frauen arbeitet, die freiwillig in der Sexarbeit tätig sind: „So haben wir es für uns immer ganz klar definiert. Von vielen wird jedoch immer noch behauptet, so etwas könne es gar nicht geben: dass man sich freiwillig für Sexarbeit entscheidet.“
„Häufig wird uns einfach abgesprochen, dass wir diesen Weg selbst für uns wählen können.“
„In erster Linie sind wir da für Beratung und Begleitung. Wer den Weg zu uns findet, hat in der Regel ein Anliegen, das geklärt werden muss. Seien es finanzielle Angelegenheiten, ein Ausstiegswunsch, schulische Fragen oder Familienzusammenführungen – wir nehmen uns aller Lebensbereiche an.“ Gerade bei Behördenangelegenheiten, sagt Augustin, wären vor allem die vielen nicht aus Deutschland und der EU stammenden Sexarbeiter*innen ohne Unterstützung des Vereins nicht in der Lage, die komplizierten Vorgänge der deutschen Bürokratie zu durchdringen. Sie beklagt, dass Ämter sich in Bezug auf ihre Klient*innen ihrem Eindruck nach häufig besonders viel Zeit lassen. Zwischen dem finanziellen Druck selbständiger Arbeit und der branchenüblichen Mobilität gestalten sich behördliche Auflagen mitunter als hohe persönliche Hürden: „Wir kennen Frauen, die daran verzweifeln. Und auch wir stoßen immer wieder an die Grenzen dessen, was wir im Rahmen unserer Möglichkeiten leisten können.“ Und auch das weiß Bea Augustin zu berichten: Dass der Verwaltungsaufwand auf dem Weg zu einer langfristig gesicherten Existenz jenseits der Prostitution hin und wieder dazu führt, dass Sexarbeiter*innen von Ausstiegsplänen wieder Abstand nehmen. Sich und ihre Kollegin bezeichnet Bea mittlerweile als Vollprofis, was das gesamte Spektrum des deutschen Sozialsystems angeht.
Neben dieser vielschichtigen, von entschiedenem Pragmatismus geprägten Beratungsarbeit, bleibt da noch Zeit, sich mit den gesellschaftlichen Aspekten von Sexarbeit auseinanderzusetzen?
Wie haben sich die Kämpfe von Beratungsstellen und Vereinen in den vergangenen 30 Jahren gewandelt? „Der Beruf ist leider immer noch in hohem Maße von Stigmatisierung betroffen. Die Leute glauben, Sexarbeiter*in zu sein bedeutet automatisch, unter Zwang zu stehen. Sexarbeit steckt nach wie vor in der Schmuddelecke, niemand möchte damit zu tun haben und es ist auch für uns immer wieder schwierig, öffentlich Unterstützer*innen und Sponsoren für unsere Arbeit zu gewinnen. Das reicht bis zur Steuerberatungsfirma, die nicht möchte, dass wir mit unseren Klient*innen zu ihnen kommen.“ Das hat auch Auswirkungen auf die Beratungsarbeit des Vereins. Öffentliche Förderung ist innerhalb des derzeit geltenden Paradigmas nur mit Angeboten zur Ausstiegsberatung zu vereinbaren, nicht aber für eine die Sexarbeiter*innen in ihrer beruflichen Wahl bestärkende Verbesserung ihrer Arbeitsbedingungen. Ohne Förderung aber wäre der Verein nicht arbeitsfähig, zumal der Beratungsbedarf unter den Belastungen der Corona-Krise sprunghaft angestiegen ist. Deswegen erarbeitet Nitribitt e.V. gemeinsam mit der Bremer Gesundheitsbehörde derzeit ein über Bundesmittel förderfähiges Ausstiegskonzept.
„Für Prostitution gibt es einen Bedarf; Sexarbeit ist Arbeit und braucht Respekt und gute Rahmenbedingungen“, schreibt der Bundesverband Sexuelle Dienstleistungen e.V. in einer Broschüre zum 2017 in Kraft getretenen Prostituiertenschutzgesetz.
Warum, frage ich Bea, ist es so schwierig, in der öffentlichen Debatte über Sexarbeit als Dienstleistungsberuf unter vielen zu sprechen? „Die Bandbreite von in der Sexarbeit tätigen Menschen ist enorm hoch, und nicht immer sind es finanzielle Gründe, die jemanden in der Branche arbeiten lassen. Gerade im BDSM-Bereich gibt es viele, die auch aufgrund eigener sexueller Vorlieben als Sexarbeiter*innen tätig sind. Nur: Es fehlen die öffentlichen Bekenntnisse.“ Tabuisierung führt zur Reproduktion von Stereotypen, die wiederum eine öffentliche Identifizierung mit dem Beruf verhindert. Dabei gibt es durchaus Anlass zu nüchterner Betrachtung: „Sexarbeiter*innen verdienen damit ihr Einkommen und wollen in erster Linie gesund bleiben. Es ist ein Geschäft zwischen zwei erwachsenen Menschen.“
Wie aufgeklärt ist die Gesellschaft?
Wir sprechen über Care-Arbeit und Sexualassistenz, über die Notwendigkeit, sexuelle Bedürfnisse im Bereich der Pflege anzuerkennen und offen über vorhandene Angebote zu informieren, über runde Tische und verstohlene Nachfragen, über das zögerliche Verhalten von Verbänden und Einrichtungen. Und trotzdem scheint sich etwas zu verändern, das Thema differenzierter betrachtet zu werden von einer Generation, die Fragen nach Selbstermächtigung und Empowerment zunehmend in intersektionalen Kontexten stellt. Und Bea Augustin stellt fest, dass gerade im Zuge der existenzbedrohenden Auswirkungen der Pandemie ein zunehmender Teil der Sexarbeiter*innen Bereitschaft entwickelt, sich öffentlich zu positionieren und für die eigenen Anliegen zu kämpfen. Sichtbar zu werden, in selbst definierter Haltung. Das neue Prostitutionsschutzgesetz ist für Augustin dabei ein zweischneidiges Schwert. Denn einerseits hilft es dabei, die Tätigkeit als Sexarbeiter*in im behördlichen Umgang als anerkannten Beruf zu führen und so zu einer Normalisierung beizutragen, die auch die soziale Absicherung verbessert. Andererseits bedeutet es auch den Verlust von Anonymität, wo diese womöglich gewünscht ist. Eine regelmäßige Meldepflicht bei Behörden und eine stets mitzuführende Anmeldebescheinigung mit Foto bergen für Bea Augustin die Gefahr, von Außenstehenden ungewollt als Sexarbeiter*in identifiziert zu werden.
Dabei heißt um Akzeptanz und realistische Betrachtungen zu werben nicht, die Schattenseiten des Gewerbes auszublenden.
„Natürlich gibt es Schwarzarbeit und versteckte Zwangsprostitution. Unseren Erfahrungen und den Zahlen nach, die bei BBMeZ vorliegen (die Bremer Beratungsstelle für Betroffene von Menschenhandel und Zwangsprostitution, Anm. d. Red.), ist der Anteil eher gering. Da die illegale Prostitution aber jenseits der Öffentlichkeit stattfindet, kommen wir an Betroffene mit unseren Angeboten oft nicht heran. Wir versuchen, aufmerksam hinzuschauen und wenn uns auffällt, dass es jemandem nicht gut geht, stellen wir den Kontakt zur BBMeZ her, bieten Hilfestellung an.“ Auch plötzlich auftretende Wohnungslosigkeit ist ein wiederkehrendes Problem, bei dem Nitribitt e.V. unterstützend zur Seite steht.
„Sexarbeit ist viel Sozialarbeit, man muss sich miteinander austauschen können.“
„Da sein, zuhören, herausfinden, wie man miteinander umgehen kann – es gehört eine ganze Menge mehr dazu, als nur Sex anzubieten. Aber so lange der Beruf nicht als solcher deklariert wird, ist es schwierig, diese Aspekte in Beratungs- oder Weiterbildungskontexten in den Blick zu nehmen. Die Vorstellung, jemanden der Prostitution zuzuführen, ist sehr verbreitet und ruft Assoziationen von Kuppelei und Zuhälterei auf.“ Dabei könnten zum Beispiel Möglichkeiten der Zertifizierung nicht nur die Professionalisierung des gesamten Arbeitsfeldes vorantreiben, sondern auch zu einer Normalisierung von Vorstellungen führen. „Vielleicht steht Sexualassistenz dann irgendwann einmal völlig selbstverständlich neben Friseur*in und Fußpflege.“ Auf der Straße, weiß Bea Augustin abschließend zu berichten, wird sie jedenfalls noch Jahre nach der letzten Vorstellung von Lola Arias' Theaterprojekt regelmäßig von Zuschauer*innen angesprochen, die sie erkennen und ihr Fragen stellen. Die Neugier auf realistische Bilder scheint jedenfalls da zu sein.
Der Film von Luisa Eugeni und Alexandra Morales wird Ende März im Rahmen von Drei Tage Tanz online auf der Website des Theater Bremen zu sehen sein. Wer die Arbeit von Nitribitt e.V. unterstützen möchte, kann dies hier tun.