Sich (nicht) kaputt machen

Die Sozial- und Kulturanthropologin Dr. Ursula Probst über Sexarbeit im Kontext von Arbeitsmärkten. Ein Beitrag anlässlich unserer Gesprächsreihe „Sex/Work“.

„Ich wollte nicht mehr für fünf Euro putzen gehen, mich kaputt machen, da ist mir das lieber“, erzählte mir eine Frau, der ich das Pseudonym Kasia gebe, vor einigen Jahren über ihre Motivation, in Bordellen, Clubs und manchmal über Online-Anzeigen der Sexarbeit nachzugehen. Als ich Kasia kennenlernte, war sie Mitte Dreißig und bereits vor über zehn Jahren mit ihrer Mutter aus Polen nach Deutschland gekommen. In einem längeren Gespräch an einem sonnigen Berliner Sommertag erzählte Kasia davon, dass sie nach ihrem Umzug nach Deutschland in Berlin ein Studium aufnehmen wollte, sich dieses aber durch mehrere Nebenjobs finanzieren musste, was sie schließlich zur Sexarbeit brachte. Das Studium hatte sie zum Zeitpunkt unseres Treffens aufgegeben, und ihre verschiedenen Nebenjobs waren Haupteinnahmequellen geworden. Kasia hatte dabei öfters Branchen gewechselt, war jedoch immer wieder zur Sexarbeit zurückgekehrt. Denn für sie, wie auch für zahlreiche weitere Teilnehmer:innen meiner Forschung zu den Lebensrealitäten von sexarbeitenden Migrant:innen aus sogenannten „osteuropäischen“ Ländern, standen im deutschen Arbeitsmarkt hauptsächlich Tätigkeiten im Bereich der Pflege, Reinigung und ähnlichen Branchen mit prekären Arbeitsbedingungen offen. Dass Kasia sich in diesem Zusammenhang immer wieder für eine Tätigkeit in der Sexarbeit entschieden hatte, stellte für sie weniger eine klare Entscheidung für die Sexarbeit dar, sondern vor allem eine Entscheidung gegen andere Arbeitsbereiche, in denen sie sich bei geringer Bezahlung „kaputt machen“ musste.

Sexarbeit findet nicht in einem Vakuum statt

Im Kontext der aufgeladenen Debatten um Sexarbeit und Prostitution muss an dieser Stelle leider immer wieder hinzugefügt werden, dass die Betrachtung von Sexarbeit als Alternative zu anderen prekären Arbeitsverhältnissen nicht automatisch eine positive Bewertung impliziert. Vielmehr soll damit darauf aufmerksam gemacht werden, dass Sexarbeit nicht in einem Vakuum stattfindet, sondern auch im breiteren Kontext von Arbeitsmigration und Arbeitsmärkten betrachtet werden muss. Denn die Lebensrealitäten vieler sexarbeitender Menschen lassen sich nicht mit dem binären Schema von Menschenhandelsopfer und absolut selbstbestimmter Frau fassen, sondern entfalten sich in den Grauzonen dazwischen, in denen verschiedene Formen von Marginalisierung, sozioökonomischer Prekarisierung und Diskriminierung die Einkommensmöglichkeiten und Arbeitsverhältnisse prägen.

Negative Konsequenzen von Sexarbeit sind kein Alleinstellungsmerkmal der Sexarbeit

Dass Sexarbeit in diesem Kontext als Alternative zu anderen prekären Arbeitsverhältnissen gesehen wird, bedeutet dabei nicht, dass Sexarbeit eine „gute“ Alternative darstellt. Sowohl Kasia als auch andere Teilnehmer:innen benannten zahlreiche Aspekte und Folgen der Sexarbeit, die sie als negativ beurteilten – angefangen damit, dass sie ihre Tätigkeit vor vielen Menschen verheimlichen mussten, über unangenehme Interaktionen mit Kunden, bürokratischen Problemen bis zu physischen und psychischen Konsequenzen. In vielerlei Hinsicht waren diese Konsequenzen für sie aber eben kein Alleinstellungsmerkmal der Sexarbeit, sondern Probleme, die sie in vielen der Arbeitsfelder vorfanden, die ihnen als Migrant:innen mit Schulabschluss oder Ausbildung in Deutschland zugänglich waren beziehungsweise, die ihnen als „Osteuropäer:innen“ zugeschrieben wurden.

Zwei große Probleme: Selbstständigkeit und strukturelle Diskriminierungen

Auch aus einem weiteren Grund ist es wichtig, Sexarbeit in breiteren Zusammenhängen von Arbeitsmigration, Arbeitsrechten und Arbeitsmöglichkeiten zu verorten. Denn Probleme wie ein mangelnder Zugang zu Krankenversicherungen ergeben sich nicht primär aus der Sexarbeit, sondern daraus, dass Sexarbeit in Deutschland hauptsächlich als selbstständige Tätigkeit ausgeübt wird. Und für Selbstständige jeglicher Branchen gelten andere Rechte und Möglichkeiten des Zugangs zur gesetzlichen Krankenversicherung als für Personen in sozialversicherungspflichtigen Anstellungsverhältnissen, unter anderem höhere Beiträge, die eigenständig entrichtet werden müssen. Das stellt eine Hürde für viele Menschen in der Sexarbeit dar, besonders für diejenigen, die unter prekären Umständen arbeiten und nur ein geringes Einkommen haben.

Ebenso haben gerade selbstständig tätige Migrant:innen aus EU-Ländern nicht automatisch vollumfänglichen Zugang zum deutschen Sozialsystem, sondern müssen zum Beispiel einen mindestens fünfjährigen Aufenthalt in Deutschland nachweisen können, um Bürgergeld beantragen zu können. Als Nachweis dafür kann eine Meldebescheinigung herangezogen werden. In den prekären Wohnungsmärkten vieler deutscher Großstädte ist diese aber für rassifizierte und/oder anderweitig marginalisierte Migrant:innen schwierig zu bekommen, da sie bei der Wohnungssuche diskriminiert werden und unter Umständen auf informelle Angebote zurückgreifen müssen.

So ergeben sich in der Praxis komplexe strukturelle Ausschlüsse für sexarbeitende Migrant:innen aus dem deutschen Sozialsystem. Das verstärkt für alle Betroffenen prekäre Lebens- und Arbeitsverhältnisse und (potentielle) Abhängigkeiten, besonders aber für diejenigen, die sich in Ausbeutungs- und Gewaltsituationen befinden. Denn ohne Krankenversicherung wird gesundheitliche Versorgung teuer, und ohne Zugang zu finanzieller Unterstützung und/oder Wohnraum der Ausstieg schwierig. Sozialarbeiterische Angebote können dabei in manchen Fällen Abhilfe leisten, ohne strukturelle Veränderungen – unter anderem in der Sozialgesetzgebung – bleibt das Grundproblem allerdings bestehen.

Sex sells – auch in den Diskursen

Die Feinheiten mancher Gesetzestexte oder des Krankenversicherungszugangs sind jedoch wesentlich weniger aufregend als die emotionalisierten und sexualisierten Erzählungen um ausgebeutete Opfer und empowerte Frauen, die mediale Debatten um Sexarbeit und Prostitution in Deutschland dominieren. Sex sells, und zwar nicht nur in der Sexarbeit, sondern auch in den Diskursen darum. Dass gesellschaftliche Debatten zu Sexarbeit in Deutschland in vereinfachten Stereotypen und individualisierten Erzählungen von armen Frauen und bösen Männern verhangen bleiben, blendet aber breitere Zusammenhänge aus. Dabei geht vor allem auch der Umstand unter, dass es nicht nur die Sexarbeit, sondern deutsche Arbeitsmärkte insgesamt sind, die Frauen, Migrant:innen, rassifizierte und anderweitig marginalisierte Personen diskriminieren und prekarisieren. Aufgrund dieser Auslassungen lässt sich Sexarbeit medial zwar regelmäßig als großes moralisches Streitthema inszenieren, ohne sich aber jemals vor Augen führen zu müssen, dass ein mangelnder Krankenversicherungszugang, ausbeuterische Arbeitsverhältnisse und Prekarität auch in anderen Arbeitsfeldern vertreten sind. Dadurch kann schließlich bequemerweise auch die Frage ausgeblendet werden, wie insgesamt ein armuts- und ausbeutungsfreies Leben für Menschen in Deutschland gewährleistet werden kann und konkrete Alternativen zu prekären Arbeitsverhältnissen geschaffen werden können. In einem politischen Klima, das aktuell vor allem emotionale Agitation zu verfolgen scheint, ist es jedoch nicht verwunderlich, dass im Kontext von Sexarbeit vor allem Moralpolitik und kaum Sozialpolitik gemacht wird.

 

Die nächste Veranstaltung der Gesprächsreihe zu Sexarbeit und Gesellschaft Sex/Work findet am 16. Dezember 2023 um 16 Uhr im noon / Foyer Kleines Haus statt. Weitere Informationen finden Sie hier.

 

Unsere Autorin:

Dr. Ursula Probst ist Sozial- und Kulturanthropologin und arbeitet aktuell als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Sozial- und Kulturanthropologie an der Freien Universität Berlin. Sie forscht seit 2012 zu Sexarbeit in Berlin. Ihre Dissertation zu den Lebensrealitäten von sexarbeitenden Migrant:innen aus „osteuropäischen“ Ländern in Berlin wurde im Jahr 2023 unter dem Titel Prekäre Freizügigkeiten im transcript Verlag veröffentlicht und ist hier verfügbar (auch open access als PDF).

Veröffentlicht am 15. Dezember 2023