Solidarität kommt von „solide“

Unter dem Titel „Between Land and Sea“ organisieren das Theater Bremen, die Dream City Biennale Tunis und Studio Rizoma in Palermo einen internationalen Austausch mit künstlerischen Produktionen und politischen Versammlungen in den drei Hafenstädten. Vom 19. bis 25. Oktober 2021 fand „Between Land and Sea“ in Palermo statt, der hier veröffentlichte Text erschien im Programmbuch des Festivals.

Ein paar Worte zum Kontext:

In Campobello di Mazara auf Sizilien, in einem verfallenen Industriegebiet hinter Olivenhainen, leben während der Erntezeit hunderte von Männern aus dem Senegal und Gambia in improvisierten Holzhütten. Sie kamen nach Europa in der Hoffnung auf ein besseres Leben und arbeiten nun unter unmenschlichen Bedingungen auf den Feldern im Süden Italiens – für eine teils mafiöse Agrarwirtschaft, den europäischen Markt und seine Konsument:innen. In der Nacht zum Donnerstag, dem 30. September 2021, brannte das so genannte Ghetto von Campobello nieder. Hunderte von Arbeitern verloren ihr Hab und Gut und wurden obdachlos, eine Person verlor ihr Leben. Doch auch nach diesem tragischen Ereignis arbeiten sie jeden Tag weiter und haben ihre Hütten bereits wieder aufgebaut, während ihre Nachbar:innen, die Konsument:innen der von ihnen geernteten Produkte und die politischen Entscheidungsträger:innen weiterhin die Augen vor ihrer Existenz verschließen.

In A space to Hold lädt die in Palermo lebende und aus dem Libanon stammende Künstlerin Lina Issa eine Gruppe von Arbeitern aus Campobello nach Palermo ein, um auf der zentralen Piazza Mediterraneo, unweit des historischen Marktes Ballaro, gemeinsam mit dem Festivalpublikum eine ihrer Hütten aus Müll, Holz und Plastik zu bauen. Dabei erzählen sie, was sie im Feuer verloren haben und erkunden gemeinsam die Bedeutung von einem Zuhause und den Wert von Arbeit. Vor dieser Hütte lädt der palermitanische Aktivist Cheikh Sene, der selbst zwei Jahre im Ghetto gelebt hatte, Aktivist:innen, politische Entscheidungsträger:innen, Passant:innen, Marktverkäufer:innen und Konsument:innen zu einer politischen Versammlung ein, um mit den Arbeitern von Campobello darüber zu sprechen, wie wir nach dem Feuer gemeinsam weitermachen.

 

ON ARMS / SULLE BRACCIA / ÜBER ARME

Von Lina Issa und Cheikh Sene, zusammen mit Ousman Toury, Talla Kebe, Assan Sene, Magatte Wade, Aliuo Mbaaye, Mbaye Fall, Imam Thiam und Amadu Niang.

Meine Arme erinnern sich so gut an das Gewicht und die Haut meines Babys nach der Geburt. Welche Erinnerungen haben Deine Arme außer an das Gewicht der Arbeit?

Keine Antwort.

Ich würde gerne mit Dir ergründen, ob wir den Ausdruck „braccianti“ neu definieren können, aufladen mit anderen Geschichten und Werten als jene, auf die er sich gewöhnlich bezieht. Darum meine Frage nach den Erinnerungen Deiner Arme.
Was bedeutet „braccianti“? Einige von denen, die so genannt werden, scheinen das Wort noch nicht einmal gehört zu haben.

„Menschen, die mit ihren Armen arbeiten“, erklärt Talla.

Dann lehnt sich Cheikh zurück und sagt: „Braccianti meint jemanden, der arbeiten muss, und der für jemand anderen arbeitet; also erwartet er/sie auch, dass etwas zurückkommt, eine positive Reaktion oder Antwort, weil er sie ja mit seinen Händen, seiner Kraft für die anderen gearbeitet hat … Das hat einen Wert, Arbeit hat Wert und die Arbeiter:innen sollten wertgeschätzt werden. Aber unsere Arbeit hier wird nicht wertgeschätzt, und darum werden wir „braccianti“ genannt, das ist kein freundlicher Name: „non é una nome carina“.

Sie nehmen unsere Kraft – und geben uns wenig zurück, fast nichts.

Auch Geschirr zu waschen sollte respektiert und fair bezahlt werden. Es gibt nicht große und kleine Arbeit. Wir machen die Arbeit, die euch das Leben bringt. Wenn ihr in den Supermarkt geht, um Obst und Gemüse zu kaufen, denkt ihr nicht darüber nach, wie es dahin gekommen ist. Welcher Anstrengungen es bedurfte, es euch zur Verfügung zu stellen, und so billig. Ihr seht nicht die Arbeit dahinter. Arbeit ist viel härter ohne Respekt und Würde.“

Wie sagt man „Arme“ in Wolof?

„Loggo“, antwortet Aliuo. „‚Loggobugudu‘ bedeutet lange Arme, ‚Loggobugate‘ bedeutet kurze Arme.“ Nach einer langen Pause führt Aliou konzentriert aus: „Wir haben im Senegal das Konzept von langen und kurzen Armen, das es hier [in Sizilien] auch gibt“. „Menschen mit langen Armen werden nicht müde, sie haben gute Verbindungen und Empfehlungen und Dinge werden für sie erledigt. Menschen mit kurzen Armen haben wenig Möglichkeiten, wie wir. Come noi. Bei uns mit den kurzen Armen hängen alle und hängt alles von uns selbst ab und unseren Anstrengungen, weil wir keine Unterstützung haben, alles mit unserer eigener Hände Arbeit erreichen müssen. Fariamo tutto con nostri mani. Wir sagen auch: ‚Samaloggo kato smanigo.‘ Meine Arme können meinen Rücken nicht berühren, weil die Arme zu kurz sind. Du möchtest helfen, aber Du kannst es nicht.“

Wie kann man Menschen mit kurzen Armen helfen, sie empowern?

„‚Dipelente‘ bedeutet Solidarität in Wolof“, antwortet Aliuo. „Wir erfahren sehr viel Solidarität untereinander. Und in den vielen Jahren in Italien habe ich auch ein paar Momente von Solidarität erlebt. Es muss keine große Geste sein, auch ganz einfache Dinge können Solidarität sein, zum Beispiel sehen, dass Du Schuhe brauchst und Dir welche geben.“

„Wir sind nun seit vier Jahren hier, niemand aus Campobello (der Gemeinde, in der sich das Ghetto befindet) kam je her um uns zu treffen, um zu sehen wer wir sind, oder ob wir etwas brauchen. Wir sind Nichts für sie. Wir existieren nicht. Sie möchten nicht mit uns sprechen, wir sind nur hier, um zu arbeiten. Nichts kann unsere Situation ändern“, ruft Usmane.

„Wir müssen in Beziehung zueinander treten, um einander zu helfen und um Probleme zu lösen. Und wir müssen diese Beziehungen langsam aufbauen, Schritt für Schritt. Wenn Du Angst vor mir hast und ich habe Angst vor Dir, und wenn wir nicht sprechen und uns einander nähern, wie kann sich dann etwas ändern?“, fährt Usmane fort. „Sie sehen nur die Hautfarbe.“

Das Wort Solidarität kommt aus dem Lateinischen. Solidus bedeutet solide. Solidarität ausüben heißt eigentlich, solide und stabil, also ein Halt sein für jemand anderen, der/die das gerade nicht ist und nötig hat.

 Ich habe ständig Bauchschmerzen bei dem Gedanken daran, was ihr zu (er)tragen habt, all diese Ungerechtigkeiten. Auch die, dass ich euch hier treffe und dann wieder in mein komfortables Zuhause zurückkehren kann. Ich frage mich die ganze Zeit, wie meine Solidarität aussehen könnte, und ich empfinde mich in eurer Gegenwart selbst eher als flüssig und porös denn als solide.

Ich lasse mich von dieser Begegnung beeinflussen und mich durch sie verändern, gestehe ich der Gruppe. Ich spüre, dass ich von euch empfangen und euch empfangen kann, aber dass ich nichts geben und zu keinem wirklichen Wandel, keiner substanziellen Verbesserung beitragen kann. Ich werde pessimistisch, wütend und tieftraurig – und doch auch wieder hoffnungsvoll, wenn ich euch treffe. Hoffnung ist Arbeit, sage ich. Die Arbeit, sich auf die Probleme einzulassen und nicht vor ihnen wegzulaufen. „Staying with the trouble“. Es ist auch Arbeit, das System offenzulegen, das diese Ungerechtigkeiten aufrechterhält, während man doch zugleich unweigerlich ein Teil davon ist.

Das zu schreiben ist ein Versuch, miteinander zu sein und nicht aufeinander zu schauen. Miteinander sein mit Fragen und Gefühlen. Worte sind Container für Emotionen und das Emotionale ist politisch. Sprache ist der Wunsch und die Hoffnung, Brücken zu bauen über Differenzen und Abgründe hinweg, einen Sinn zu erzeugen aus den Fragmenten – zugleich aber gilt es, die Gewalt und den Kolonialismus der Sprache anzuerkennen, ihre Politik des Ausschlusses.

Ich möchte aufhören zu schreiben und das Wort „Gerechtigkeit“ laut ausrufen, es nur zu schreiben reicht nicht. Das einzige Wort, bei dem sich meine Brust öffnet, meine Füße sich erden und mein Körper sich solide anfühlt.

In Gedenken an Omar Baldeh, der bei einem Brand am 30. September 2021 in Campobello starb.

Zum Kontext:

Between Land and Sea wird gefördert durch insbesondere die Kulturstiftung des Bundes und u. a. durch die Rosa Luxemburg Stiftung Tunis.  Der hier abgedruckte Text erschien im Programmbuch des Festivals in Palermo auf Englisch und Italienisch, im Rahmen des Pandemos-Projekts von Studio Rizoma und der European Cultural Foundation. Die deutsche Übersetzung und Einführungstext sind von Eva-Maria Bertschy und Stefan Bläske. Between Land and Sea wird fortgesetzt im Oktober 2022 in Tunis und im November 2022 am Theater Bremen, u. a. mit Arbeiten von Lily Abichahine, Rosella Biscotti, Monika Gintersdorfer/La Fleur, Simone Mannino, u.v.m.

www.betweenlandandsea.org

 

 

Veröffentlichung: 5.11.21