Strukturwandel – kein stumpfer Winkel
Ferdaouss Adda, 360°-Referentin für Interkulturelle Öffnung am Theater Bremen, berichtet über Fortschritte und Aufgaben auf dem Weg zu einem Theater für alle.
Bundesweit nehmen 39 Kulturinstitutionen am 360°-Programm teil. Es sind Museen, Bibliotheken, eine Musikschule, eine Staatsphilharmonie und Theater beteiligt – darunter, seit der Spielzeit 2018/2019, auch das Theater Bremen. In der Geometrie steht 360° für einen Vollwinkel, 180° steht für einen gestreckten Winkel und der Bereich zwischen 90° und 180° wird als stumpfer Winkel bezeichnet. Im Programm 360° geht es, wie es schon längst klar sein dürfte, nicht um Mathematik, sondern um die Einnahme einer Perspektive, einer ganzheitlichen Perspektive, die gewiss immer wieder erarbeitet werden muss.
Es geht darum, sich die Diversität der eigenen (Stadt-)Gesellschaft vor Augen zu führen und institutionell einen Strukturwandel in die Wege zu leiten.
Warum? Weil, wie Nora Sternfeld, Kunstvermittlerin und Professorin der Hochschule für bildende Künste Hamburg, sagt: „Das Museum als öffentliche Institution allen gehört.“ Das gilt logischerweise dann in Bezug auf alle öffentlichen Kulturinstitutionen. Wandel ist notwendig, allein schon, weil es um die Zukunft geht. Und die ist jetzt. „Das Stadttheater steht unter Innovationsdruck“, betonte Michael Börgerding in seinem Impulsvortrag zur Frage von Teilhabe im Theater im Rahmen der 360°-Werkstattgespräche. Denn: „Seine Zukunftsfähigkeit ist an die Frage gekoppelt, wie gut es ihm in ästhetischer, diskursiver und auch ökonomischer Praxis gelingt, sich über eine grundsätzliche Öffnung für ein diverses Publikum der Zukunft als attraktiv und relevant zu erweisen.“ Wandel bedeutet jedoch ebenso, sich auf eine Reise ins Unbekannte zu begeben, sich – nicht nur, aber eben auch – mit Unsicherheiten zu plagen, zu (ver)zweifeln, manchmal auf der Stelle zu treten oder hinzufallen.
Wandel tut weh, sicher nicht für alle gleichermaßen.
Aber er bleibt eine Herausforderung. Keine unmögliche. Auch hier kommt es wiederum auf die Perspektive an und auf den Wagemut, auf die Haltung: Im Prinzip geht die Reise los mit dem ersten Schritt. Über welche Unebenheiten und Umwege sie hinführt, muss herausgefunden werden. Oder, um es mit den Worten der Journalistin und Netzaktivistin Kübra Gümüşay zu sagen: „Ich stieß gegen die Grenzen dieser Sprache. Fiel hin. Stand auf. Dieses Mal mit Anlauf. Prallte gegen ihre Wände. Stolperte über ihre Hürden. Stand erneut auf, ermüdete, sackte ein, stand auf – wieder und wieder. Mit Hoffnung aus Prinzip.“ Gemeinsam mit der Expertise der Agent*innen haben die Kulturinstitutionen im 360°-Programm Erfahrungen sammeln und erste Verfahren entwickeln können. Das jedenfalls wurde in den Werkstattgesprächen erkennbar. Dass es noch viel zu tun gibt und geben wird, ist wahrscheinlich allen klar (geworden).
Die Reise geht weiter. Mit Hoffnung aus Prinzip.
Einmal im Jahr lädt das Programm 360°- Fonds für Kulturen der neuen Stadtgesellschaft alle Institutionen, die im Programm geförderten werden, zu einem Austauschtreffen ein. Seit Beginn des Programms fanden drei Treffen statt – das letzte Anfang Dezember 2020, online in Form von Werkstattgesprächen (mehr dazu finden Sie auf der Seite der Kulturstiftung des Bundes). In drei Themenblöcken wurden Vorgehensweisen und Erkenntnisse aus Diversitäts- und Öffnungsprozessen in Kulturinstitutionen geteilt, Fragen erörtert, aber auch voneinander abweichende Positionen vertreten und Bedürfnisse formuliert. Diskutiert haben Agent*innen und Leitungen geförderter Kulturinstitutionen, Vertreter*innen von Migrant*innen-Organisationen, freischaffende Künstler*innen, Vertreter*innen aus der Kulturpolitik und der Kulturstiftung des Bundes. Den Themenblöcken gingen jeweils Impulsvorträge voraus, die eine Grundlage boten für die weitere Auseinandersetzung mit den oft komplexen Prozessen.
Im ersten Themenblock wurde der Blick nach innen gerichtet, auf die bestehenden Strukturen von Institutionen.
Es wurde skizziert, wie eine am Programm teilnehmende Bibliothek aus Berlin den diversitätsorientierten Organisations-Entwicklungsprozess umsetzt: mit der Schaffung und Verankerung von Diversitäts-Arbeitsgruppen, der Entwicklung von Projekten mit Bibliotheks-Nutzer*innen und Mitarbeitenden, der Einführung von Evaluations-Instrumenten usw.
Um die Wahrnehmung von Kulturinstitutionen aus postmigrantischer Sicht ging es im zweiten Themenblock.
Auch um die Frage danach, wie Teilhabe von Menschen und Akteur*innen aus der Gesellschaft aussehen könnte, die institutionsübergreifend vielfach immer noch unterrepräsentiert sind. Dr. Delal Atmaca, Geschäftsführerin von DaMigra e.V., forderte eine Kommunikation und Begegnung „auf echter Augenhöhe“ – eine unabdingbare Voraussetzung, um koloniale Kontinuitäten, wie das Zueigenmachen von Wissen, Exotisierung (Wunsch- und Sehnsuchtsbilder, die auf Menschen/Gruppen projiziert werden/Idealisierung/Verklärung) und Tokenism (Etikettierungsschwindel) zu unterbinden. Von künstlerischer Seite wurde darüber hinaus betont, die eurozentrisch geprägten Qualitäts-Beurteilungen in der bisherigen Praxis von Kultureinrichtungen einer kritischen Sicht zu unterziehen und neue Qualitätsstandards zu entwickeln.
Dass Diversitäts- und Öffnungsprozesse Spannungsfelder sind, wundert nicht.
Es zeigt offenbar nur, dass es sich um gesellschaftliche Aushandlungsprozesse handelt – unter anderem um Strukturen, Ressourcen, Repräsentationen. Bestehende Machtverhältnisse werden in Frage gestellt. Mit Blick auch auf das Theater brachte es Michael Börgerding in der Debatte mit dem Stichwort „Umverteilung“ hier auf den Punkt. Im dritten und letzten Themenblock spielte die nachhaltige Sicherung der Diversitäts- und Öffnungsprozesse eine zentrale Rolle. Dr. Carsten Brosda, Hamburger Senator für Kultur und Medien, und Hortensia Völckers, künstlerische Direktorin und Vorstandsmitglied der Kulturstiftung des Bundes, bekannten sich beide klar zu den Diversifizierungsprozessen. Sie unterstützten die Sicht beteiligter Kulturinstitutionen, Bedarfe und Ideen weiter zu verfolgen, die aus diesen Prozessen hervorgehen, dann auch unter Einbezug der lokalen Kulturpolitik.