Das Stück, dessen Name nicht genannt werden darf

Über Aberglauben im Theater: Dramaturgin Frederike Krüger macht einen Ausflug in die Welt der kleinen Rituale, die das Theaterleben begleiten.

Neulich am Pult der Inspizienz: „Was ist eigentlich mit den Noten von ‚Ma…‘?“ – Schockschwerenot! Weiter ging die Frage gar nicht, aufgerissene Augen, erschrockene Gesichter, irgendwo fiel jemand vom Stuhl … So (oder zumindest so ähnlich) hat es sich in jüngster Zeit zugetragen. Doch was war passiert? Derzeit laufen die Proben, soweit so gewöhnlich. Das Stück, um das es geht, ist aber alles andere als gewöhnlich. Es ist „Das schottische Stück“, das Stück „dessen Name nicht genannt werden darf“ von William Shakespeare, am Theater Bremen in der Opernfassung von Giuseppe Verdi. Aber was hat es damit auf sich, mit dem Schrecken, den das Stück mindestens unter Theaterleuten verbreitet und dem Aberglauben überhaupt auf und hinter der Bühne?

War das da hinten etwa eine schwarze Katze?

Die Wurzeln des Theaters liegen in (religiösen) Ritualen, denen die Menschen durch Spiel, Gesang und Tanz Ausdruck verliehen. Und der Aberglaube? Der ist so alt wie die Menschheit selbst. Er entwickelte seine Symbole, Riten und Bräuchen unter dem Einfluss zeitbedingter gesellschaftlicher und religiöser Normen und Werte und tradierte sich immer weiter. Noch heute beeinflusst er das gesellschaftliche Zusammenleben, mal mehr und mal weniger offensichtlich… War das da hinten etwa eine schwarze Katze? Nein danke, in Reihe 13 sitze ich eher ungern. Oh, ein vierblättriges Kleeblatt … Oft mit einem Augenzwinkern betrachtet und benannt, sind es doch die kleinen Rituale des Aberglaubens, die das gemeine Leben vor der Trivialität des Profanen bewahren. So auch (oder gerade) am Theater. Glück oder Unglück – wenn Kunstschaffende ihr Schicksal in die Hände des Dionysos legen, dann ist der Aberglaube oft ein treuer Begleiter, mit ein bisschen Nostalgie und Folklore verbunden, aber vor allem gemeinschaftsstiftend.

Es wird also vieles auf der Bühne, aber gepfiffen bitte nicht!

Die mögliche Begründung dafür findet sich in der Theaterpraxis des 18. und 19. Jahrhunderts, als sich die Bühnenarbeiter im Schnürboden mit Pfiffen verständigten und jedes pfeifende Missverständnis fatale Folgen hätte haben können. Eine andere Erklärung kommt aus der Zeit, in denen die (Bühnen-)Beleuchtung noch aus Gaslaternen bestand und ein leises Pfeifen den ungewünschten Austritt von Gas signalisierte – ein Warnsignal, das nicht überhört werden sollte. Und die Sache mit den Glückwünschen? Nun, „viel Glück“ braucht es für eine gelungene Premiere nicht, eher ein „Toi toi toi!“. Und zwar bitte ohne höfliches „Danke“. In Frankreich heißt es übrigens „Scheiße!“, also „Merde“ oder sogar „Grosse Merde!“. Alle anderen Premierenwünsche sind mehr oder weniger verpönt. Das Faible für Fäkalsprache? Stammt aus der Zeit, als noch Kutschen die Theatergäste vor die Häuser führten und die Menge der tierischen Hinterlassenschaften einen Hinweis auf die jeweilige Auslastung des Theaterabends gab. Viele Haufen, viel Erfolg also! Neben Haufen und dem obligatorischen „Toi toi toi“, verbunden mit dreimaligem Spucken (zumindest akustisch) über die linke(!) Schulter, gibt es dann noch die Regel, dass auf der Bühne nicht gegessen werden sollte, auch die eigene Jacke darf nicht auf der Bühne getragen werden, das letzte Wort eines Stück erst zur Premiere gesprochen … All das, um Unglück zu vermeiden und übernatürliche Kräfte zu besänftigen.

Auf dem Stück, um das es hier geht, scheint nun einer der wohl schwerwiegendsten Flüche der Theatergeschichte zu liegen, weshalb allein der Titel Angst und Schrecken verbreitet.

Begonnen hat all das bereits um 1606, als Shakespeare sein Drama um den schottischen König schrieb. Weil das Stück aber so voller Unheil, Brutalität, Übernatürlichkeit und – na ja Aberglaube – war, wurde es kurzerhand vom damals regierenden König James I. verboten. Die erste Aufführung ist im Jahr 1611 belegt. Ein holpriger Start, im weiteren Verlauf der Genese des Stücks jedoch nur von kleiner Bedeutung, wie sich zeigen sollte: Bei der Uraufführung soll der Knabe Hal Berridge, der damals die Lady spielte, unerwartet hinter der Bühne verstorben sein, so dass Shakespeare selbst einspringen musste. Bei einer späteren Aufführung in Amsterdam wurde ein Requisitendolch versehentlich mit einem echten vertauscht und verursachte einen tatsächlichen Tod auf der Bühne. In den 1950er Jahren nahm Diana Wynyard ihre Aufgabe zu ernst und schlafwandelte als Lady über die Bühnenkante hinaus – sie fiel fast fünf Meter in die Tiefe. 1849 löste das Drama handfeste Krawalle am New Yorker Broadway aus. Grund war der Konkurrenzkampf zwischen zwei Schauspielern und ihren jeweiligen Fans, die an zwei unterschiedlichen Theatern zeitgleich in der Titelrolle zu sehen waren. Bei dem sogenannten „Astor Place Riot“ flogen Pflastersteine und Fäuste, die Nationalgarde musste einschreiten und fast 30 Menschen wurden erschossen. Über das traditionsträchtige „Old Vic“ Theater in London brachte das „Nachtstück“ 1937 ebenfalls Unheil, als der darstellende Titelheld beinahe von einem herabfallenden Gewicht erschlagen wurde und die Theaterleiterin Lilian am Tag der Generalprobe verstarb. Fünf Jahre später wollte die Pechsträhne nicht abreißen: Drei Schauspieler starben in der Inszenierung von John Gielgud, der Kostümbildner beging nach der Premiere Selbstmord (Gründe unbekannt).

Die Liste könnte wahrscheinlich endlos fortgeführt werden. Und was ist der Grund des Ganzen?

1947 zog der Fluch weitere Kreise bis nach Manchester, als der Macduff-Darsteller durch einen Degen verletzt wurde und später seiner Stichverletzung erlag. Er hatte wohl immer wieder betont, nicht an die unheilbringenden Geschichten zu glauben. Die Liste könnte wahrscheinlich endlos fortgeführt werden. Und was ist der Grund des Ganzen? Shakespeare scheint selbst schuld am Fluch seines Stücks gewesen zu sein:  Angeblich soll er seinen Hexenfiguren „echte“ Beschwörungsformeln in den Mund gelegt haben, die durch das Sprechen auf der Bühne ihre dunkle Magie entfalten. Zudem sollen Englands Hexen höchstpersönlich das Stück aus Rache verflucht haben, weil Shakespeare ihnen ihre Zaubersprüche gestohlen habe. So oder so gehört Shakespeares Hexen-Königs-Drama seit seiner Uraufführung zu den einflussreichsten und populärsten seiner Werke, dessen Erfolg sich gleichermaßen aus Faszination und Ehrfurcht zusammenzusetzen scheint. Immer wieder fand das Stück seinen Weg auf Schauspiel- und seit Giuseppe Verdis (blut-)rauschender Bearbeitung auch auf Opernbühnen. Vielleicht liegt die ungebrochene Faszination der Tragödie in den übernatürlichen Kräften, die in keinem anderen Werk Shakespeares eine größere Rolle spielen und weit über den Bühnenrand hinauswirken, oder in den Hauptfiguren des machthungrigen Herrscherpaares, das einen waghalsigen Tanz zwischen Mord, Macht und Wahnsinn aufführt. Sollte jemandem nach all dem übrigens doch einmal der Titel über die Lippen kommen, so soll nur eines helfen: Das Theater sofort verlassen, sich dreimal um die eigene Achse drehen und dabei spucken.

In diesem Sinne: Wir sehen uns am 10. Dezember zur Premiere von Giuseppe Verdis „Ma…“, na Sie wissen schon.

 

Veröffentlicht am 28. November 2023