Tatjana Gürbaca: Don Giovanni am gähnenden Abgrund

Regisseurin Tatjana Gürbaca im Gespräch mit Dramaturgin Isabelle Becker über Don Giovannis Grenzgänge

Tatjana, in Bremen ist deine erste Inszenierung von Don Giovanni zu sehen. Warum erst jetzt, warum hier?

Tatjana Gürbaca: Obwohl ich bereits zuvor mit anderen Häusern im Gespräch über dieses Stück war, habe ich lange gezögert, Don Giovanni zu inszenieren. Unter den drei Mozart/Da Ponte-Opern ist dieses Stück das düsterste, rätselhafteste, aufwühlendste. Als aber das Angebot aus Bremen kam, hatte ich das Gefühl, dass alles stimmt, zumal ich das Haus und das Ensemble schon sehr gut und lange kenne und sich Bremen immer wieder wie Heimat anfühlt.

Don Giovanni ist ein Spieler, ein Rastloser. Er lotet Grenzen aus und überschreitet sie lustvoll – auch in Bezug auf Frauen. Ist Don Giovanni also lediglich der große Verführer?

Tatjana Gürbaca: Ich glaube, es gibt ein großes Missverständnis über das Stück: Don Giovanni wird häufig in die Nähe Casanovas gerückt, seine Schuld scheint sich an der Verführung zahlloser Frauen festzumachen. Schon bei Tirso de Molina, der ursprünglichen Vorlage, ist er dem Titel nach ein burlador (ein Verführer) und es geht um die Bestrafung des Wüstlings. In Wahrheit geht es aber um viel größere und existentiellere Fragen: Don Giovannis Rebellion greift weiter, gilt der höchsten Instanz. Und dabei bleibt die Figur äußerst doppeldeutig. Einerseits verkörpert er den dekadenten Adeligen, der durch die Revolution abgeschafft werden muss, andererseits ist er derjenige, der Grenzen überschreitet, Regeln hinterfragt, Freiheit (auch des Denkens) einfordert. Eine Figur, an deren Radikalität die Lebenslügen der anderen zerbrechen.

Das Höhere, Autoritäre ist in diesem Stück der Komtur. Seine Figur ist stark mit dem Tod verknüpft. Ist er auch für dich eine moralische, eine christliche Instanz?

Tatjana Gürbaca: Ich habe neulich in dem neuen Buch Nach Gott des Philosophen Peter Sloterdijk einen schönen Abschnitt gefunden, in dem er davon spricht, dass Nietzsches Satz „Gott ist tot“ nicht nur bedeutet, dass es keinen Gott mehr gibt, sondern, dass der Satz auch umkehrbar ist: „Der Tote ist Gott“, also die Toten sind es, die über uns richten, weil sie ihr Leben schon vollendet haben und deswegen als moralische Instanz taugen. Tatsächlich glaube ich, dass der Komtur auch für eine ganz tiefe menschliche Sehnsucht steht, es möge etwas geben, was über uns steht und unserem Dasein einen Sinn verleiht. Ich glaube, das ist eine ganz große Angst, am Ende hinter diese Grenze zu schauen und nichts zu finden.

Dass Mozart und Da Ponte den Mord des Komturs direkt an den Anfang des Stückes stellen, zeugt von einer ungewöhnlichen Dramaturgie.

Tatjana Gürbaca: Ich fand schon als Kind das Terzett, in dem der Komtur stirbt, absolut magisch. Das ist eine Musik, bei der man wirklich das Gefühl hat, die Zeit bleibt stehen. Nach meinem Empfinden ist es eigentlich die einzige Liebesszene in der Oper. Wenn der Komtur Don Giovanni ins Messer läuft, erinnert die Bewegung an die Umarmung zweier Liebender, es ist ein Moment, über den Don Giovanni nicht mehr hinweg kommen wird. Man spürt das im Rezitativ danach, wo erst Leporellos Frage „Wer ist denn jetzt tot – du oder der Alte?“ Don Giovanni zurückholt.

Eine Frage, die Don Giovanni nicht sofort beantworten kann …

Tatjana Gürbaca: Da findet etwas statt, was in allen Begegnungen Don Giovannis mit den Frauen nicht stattfindet.

Ein zentrales Element im Bühnenbild ist die Grube …

Tatjana Gürbaca: Ja, das war für mich von Anfang an ein wichtiger Gedanke, dass alles am Rand einer Grube spielt, weil es auch bedeutet, dass wir bei der Geburt und im Tod alle gleich sind. Wie groß die Hierarchien hingegen im Leben sind, führt Mozart deutlich vor. Nur Don Giovanni missachtet die Standesgrenzen, er verführt die Bäuerin wie die Adelige, wirft jede Ordnung über den Haufen, bringt Unruhe in die Welt, weckt die dunklen, unentdeckten Seiten in den Anderen, eröffnet ein ungeahnt weites Feld (erotischer) Möglichkeiten.

Ist uns die Figur deswegen so sympathisch?

Tatjana Gürbaca: Natürlich ist er eine Figur, die alle in den Bann zieht. Er hat von allem zu viel und gleichzeitig ist es genau das, was ihn auffrisst – eine Maßlosigkeit, die auch in Stücken wie Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny steckt, wo auch durch endloses Fressen niemand satt wird. Wo ist der nächste Tabubruch, den ich begehen kann oder die nächste Grenze, die ich überschreiten kann? Wenn ich allerdings an diesen Punkt angekommen bin, alles zu dürfen, was soll dann noch kommen? Der Abgrund ewiger Leere gähnt in Don Giovanni selber.