Theater in Tunis: Das Festival „Dream City“
Selma Ouissi, Künstlerin und Co-Leiterin von „Dream City“ in Tunis, im Gespräch mit Stefan Bläske über Krisen, Kunst und Revolution, das Mittelmeer und die Kooperation „Between Land and Sea“.
Im November kommt das internationale Festival „Between Land and Sea“ nach Bremen. Vorher hat es schon Station gemacht in Palermo und in Tunis. Dort war es Teil von eurem Festival „Dream City“ …
Selma Oussi: Dream City ist eine Plattform für zeitgenössische Kunst in der Medina, der Altstadt von Tunis. Künstler:innen aus Tunesien, der MENA-Region (Middle East and North Africa) und dem Rest der Welt sind eingeladen, spartenübergreifend neue Formen zu entwickeln. Es geht uns um einen langfristigen Austausch im lokalen Kontext: mit der Bevölkerung, den politischen und sozialen Themen vor Ort. Wir bitten die Künstler:innen, möglichst mit einem „leeren Blatt“ anzureisen und sich Zeit für uns in Tunis zu nehmen. Während Dream City teilen wir die Ergebnisse dieser Prozesse mit dem lokalen und internationalen Publikum und unseren Partner:innen.
Das Festival hat sich ausgedehnt zu „L’Art Rue“?
Selma Oussi: Nach dem ersten Festival im Jahr 2007 hat sich aus Dream City eine Struktur entwickelt mit verschiedenen Programmen und Aktivitäten. L'Art Rue organisiert ein ständiges Residenz- und Bildungsprogramm. Dahinter steht die Überzeugung, dass unsere Stadt und unsere Demokratie nicht verändert werden können, wenn Künstler:innen und Kulturschaffende nicht umfassend und kreativ an diesem Prozess beteiligt sind.
Das diesjährige Festival habt ihr mit einer Ikone der tunesischen Revolution eröffnet.
Selma Ouissi: Emel Mathlouthi war die Stimme der tunesischen Revolution von 2011, ihr Lied Kelmti Horra (Mein Wort ist frei) kennen in Tunis alle auswendig. Emel hatte seit fünf Jahren nicht mehr in Tunis gesungen. Heute, da unsere junge Demokratie erneut bedroht ist, war es wichtig, sie wieder bei uns zu haben. Vor allem im Theatre Municipal in der Avenue Bourguiba, einer Kultureinrichtung, die 2011 ein wichtiger Zufluchtsort für die Zivilgesellschaft war.
Ihr seid Partner bei unserem Austausch zwischen Palermo, Bremen und Tunis und habt im Rahmen von „Dream City“ Anfang Oktober zwei intensive Diskurs-Tage dazu entwickelt.
Selma Ouissi: Das Tagungsprogramm zu Between Land and Sea haben zwei tunesische Historiker:innen, Leyla Dakhli und Adnen El Ghali, kuratiert. Sie haben Expert:innen eingeladen, um über Themen des Mittelmeerraumes nachzudenken, die für eine Hafenstadt wie Tunis wichtig sind, wie etwa Migration oder Klimawandel. Leyla und Adnen legten besonderen Wert darauf, dass die Beiträge die Sicht aus Tunis, von der Südküste des Mittelmeers, berücksichtigen, die oft weit weniger romantisch ist als die des Nordens. Das Mittelmeer ist für uns leider zu einem Raum geworden, zu dem wir keinen Zugang haben und der für Ungleichheit, Gewalt und Tod steht. Gleichzeitig ist es wichtig, ihn nicht aufzugeben und zu versuchen, die aktuelle Krise zu überwinden, indem wir gemeinsam mit unseren Partner:innen aus dem Norden auf unsere reiche und gemeinsame Geschichte blicken.
Teil des künstlerischen Programms von „Between Land and Sea“ in Tunis war auch „Rébétiko-Malouf“.
Selma Ouissi: Rébétiko-Malouf ist eine musikalische Arbeit, die zeigt, was der kulturelle Austausch im Mittelmeerraum mit seiner gemeinsamen Vergangenheit heute und morgen bedeuten kann: Griechische und tunesische Musiker:innen erkunden und vermischen zwei Musiktraditionen aus den 1920er Jahren von beiden Seiten des Mittelmeers. Das Ergebnis klingt total vertraut und wirklich überraschend zugleich.
Außerdem habt ihr „The Journey“ von Rossella Biscotti produziert, die ihre Arbeit auch in Bremen präsentieren wird.
Selma Ouissi: Die Klangkünstlerin Rossella Biscotti nimmt uns in The Journey mit auf eine Bootsfahrt über das Mittelmeer, bei der sie Routen und Orte, die in der Vergangenheit miteinander verbunden waren und es auch heute noch sind, neu verbindet. Es geht um Migration, Handel, Fischerei usw. Sie verwandelt die Geräusche, Lieder und Stimmen der Reise, des Meeres und der besuchten Gebiete in eine Klanginstallation, die eindringlich, bewegend und konfrontierend ist.
Dein eigener künstlerischer Beitrag zum Festival ist der Film „Wajdan“, den du mit deinem Bruder Sofiane gedreht hast.
Selma Ouissi: Wajdan basiert auf einem Interview, das wir im Rahmen unserer Porträt-Serie Le Moindre Geste geführt haben. Wajdan ist aus Syrien geflüchtet. Für das Video, das vom Guggenheim Abu Dhabi in Auftrag gegeben wurde, haben wir vier arabische Frauen/Künstlerinnen/Freundinnen aus der ganzen Welt eingeladen, sich das Interview anzuhören und darauf zu reagieren, oder besser gesagt, es zu verkörpern. Eine der arabischen Künstlerinnen war Jalila Baccar, die fantastische tunesische Schauspielerin, die uns sehr am Herzen liegt und auch an einem anderen Projekt für Dream City 2022 beteiligt war.
Ein Wunsch für die künstlerische Zukunft in Tunis?
Selma Ouissi: Dass wir Künstler:innen weiterhin frei schaffen können in einer Welt, die unter dem enormen Druck vielfältiger, realer Bedrohungen steht, in der aber gemeinsame kulturelle Räume für eine Zukunft der Offenheit und Solidarität und eine bewohnbare Erde unerlässlich bleiben.
Titelbild: Eröffnungskonzert „Dream City“ von Emel Mathlouthi, der Stimme der tunesischen Revolution von 2011.
Veröffentlichung: 19.10.22