Treffen sich ein Prinz und drei Orangen ...
Ist mit dem Prinz eigentlich alles in Ordnung? Bianca Schroeter ist Heilpraktikerin für Psychotherapie mit integrativem Ansatz. Sie ist spezialisiert auf Paartherapie und Sexualtherapie und spricht mit Frederike Krüger, die die neue Musiktheaterproduktion Die Liebe zu den drei Orangen als Dramaturgin begleitet.
In Sergej Prokofjews Die Liebe zu den drei Orangen verliebt sich ein melancholischer Prinz in drei Orangen … Geht das, sich in drei Früchte zu verlieben?
Bianca Schroeter: Prinzipiell ist das sicher möglich, sich in drei Orangen zu verlieben oder sich von der Frucht sexuell angezogen zu fühlen. Von einer Objektophilie, also der sexuellen Anziehung von Menschen zu unbelebten Objekten, würde ich in diesem Fall nicht sprechen, denn Orangen sind verderblich.
Warum verlieben sich Menschen in Objekte?
Ich kann hier natürlich nicht für alle Menschen mit objektophiler Neigung sprechen, aber wichtig zu verstehen ist, dass diese Menschen nicht psychisch krank sind. Sie verlagern ihre emotionale Welt auf ein Objekt, das sie ganz und gar als Gegenüber wahrnehmen. Obgleich diese Neigung nicht gut erforscht ist, finde ich das durchaus nachvollziehbar.
Inwiefern?
Wir sind als Gesellschaft weit weniger rational, als wir oft denken. Wir alle haben doch unsere kleinen Rituale oder wie ich es nenne: unser magisches Denken. Talismane bei Sportwettkämpfen, bestimmte Socken beim Vorstellungsgespräch – es passiert oft unbewusst, dass Gefühle auf einen Gegenstand projiziert werden. Auch Kinder haben das mit ihren Teddybären oder Puppen. Irgendwann findet dann ein Ablösungsprozess statt oder manchmal eben auch nicht. Wie viele Menschen führen eine Beziehung mit immateriellen Dingen, Filmen oder ihren Lieblingssongs? Aber solange damit kein Leidensdruck einhergeht oder ein Mensch gefährdet wird, darf diese Liebe doch sein. Wer bin ich, Menschen zu sagen, dass sie ihren Kühlschrank nicht lieben sollen, solange es ihnen damit gut geht. Das ist mir lieber als eine unglückliche Beziehung zwischen zwei Menschen, in denen es oft mehr Einsamkeit gibt, als viele denken.
Mit welchen Bedürfnissen kommen Menschen in Ihre Praxis?
Das ist sehr individuell. Aber es gibt Themen, die die meisten Menschen beschäftigen: der Wunsch, die eigene Identität und die eigenen Bedürfnisse finden und ausdrücken zu können. Im sexuellen wie im romantischen Sinn. Speziell in meine Praxis kommen oft Menschen, die sich in einer weißen, heteronormativen Cis-Welt nicht wohlfühlen. Der Schwerpunkt meiner Arbeit liegt bei queeren Menschen und Menschen, die eine alternative Sexualität leben. Meine Praxis soll ein Safer Space sein, um über die eigene Sexualität und Beziehung zu sprechen. Oft fehlt es meinen Klient:innen an Vokabular, um ihre Wünsche und Fantasien zu benennen. Ich helfe ihnen, sich so kennenzulernen und auszudrücken, dass sie sich selbst helfen können.
Hilflos scheint auch der Prinz in Die Liebe zu den drei Orangen. Ihm wird „hypochondrische Depression“ attestiert und ein ganzes Spektakel aufgefahren, um ihn zum Lachen zu bringen, was letztlich gelingt. Doch dann wird er verflucht und in die Wüste geschickt, wo er eben auf die drei Orangen trifft.
Der Prinz ist für mich wie ein kleines Kind und wird ganz und gar von seinen Bedürfnissen geleitet. Er handelt vollkommen irrational. Der Prinz lebt nur im Moment und ist dabei fast ein bisschen hysterisch, das mag ich. Auch die verschiedenen Gruppen, die zu Beginn des Stücks brüllen, was sie für ein Theater wollen, finde ich toll. Es ist immerhin ihr gutes Recht, für das einzustehen, was ihnen wichtig ist. Das ist auch für Beziehungen wichtig: Bevor ich etwas gebe, muss ich darüber nachdenken, was ich eigentlich möchte. Auch wenn das in der Oper alles ein bisschen überspitzt dargestellt ist.
Überspitzung ist ein gutes Stichwort, denn Prokofjew schrieb Figuren, die sich jeglicher Psychologisierung entziehen und mehr Archetypen sind als Individuen. Im Stück reißt der Faden der Logik immer wieder ab.
Dadurch bleiben für das Publikum so viel Möglichkeiten für Gedankenspiele und große Interpretationsspielräume. Ob der Prinz jetzt wirklich verliebt ist in die Orangen oder eine Obsession hat, wer weiß das schon? Das Stück ist absurd – aber ich mag das Absurde. Weil im vermeintlich Abseitigen häufig liegt, was allgemeingültig ist.
Was ist denn das Allgemeingültige in Die Liebe zu den drei Orangen?
Ich sehe darin vor allem die große Hilflosigkeit angesichts äußerer Normen und innerer Bedürfnisse. Und aus sexualtherapeutischer Sicht finde ich den Umgang mit menschlichen Trieben in dem Stück hochinteressant und zwar nicht nur im offensichtlich amourösen Sinne, sondern auch was den Spieltrieb angeht. Theater ist für den Menschen fast schon lebensnotwendig: Geschichten erzählen, sich verkleiden, verwandeln, Fantasien entwickeln und ihnen nachgehen. Der Spieltrieb ist für den Menschen wichtig, je spielerischer, desto besser. Denn im Spiel können wir uns ausprobieren. So können wir herausfinden, wo die eigenen Bedürfnisse und aber auch Grenzen liegen. Die Figuren sind nicht psychologisch erklärbar, aber sie können etwas, wonach wir Menschen uns auch sehnen: uns selbst mit Bedeutung füllen und dann dafür einstehen. Und außerdem zeigt das Stück, wie wichtig es ist, gemeinsam zu lachen. Das ist für mich sowieso die Regel Nummer eins in der Sexualität: Jemanden zu finden, mit dem man die ureigene Sexualität leben und gemeinsam lachen kann.
Prokofjew schrieb Die Liebe zu den Orangen 1921 – was hat das Stück mit uns heute noch zu tun?
In den 1920er Jahren haben die Menschen ihre Korsette fallen lassen und dieselben Menschen haben Kunst gemacht: surreale, absurde und auch frivole Kunst. Es gab ein anderes Bewusstsein und eine andere Normalität durch die Repräsentation vieler verschiedener Lebens- und Liebesentwürfe. Vieles von dieser sexuellen Befreiung ging dann verloren durch den Nationalsozialismus. Heute kommen wieder und immer noch Menschen in meine Praxis, die zum ersten Mal hören: Du darfst lustvoll sein, du darfst irre sein. So lange dabei kein anderer Mensch verletzt oder bedrängt wird, darfst du dich ausleben. Und wenn du willst, darfst du dich auch in drei Orangen verlieben.
Veröffentlicht am 10. Mai 2024