Turbulente Jahre
Dramaturg Ármin Szabó-Székely, den eine regelmäßige Zusammenarbeit mit HODWORKS verbindet, über die ungarische, zeitgenössische Tanzszene während der COVID-Pandemie und die bevorstehenden Parlamentswahlen in Ungarn.
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Die ungarische Kultur hat turbulente Jahre hinter sich: Im traditionell theaterbegeisterten Budapest, bekommen nun auch die Theater die Auswirkungen der COVID-Pandemie zu spüren: Die Besuchszahlen haben sich halbiert – und das, obwohl die Fallzahlen rückläufig sind und die Regierung die allgemeine Maskenpflicht aufhebt. Der Krieg in unserem Nachbarland Ukraine und die Inflation sind den Besuchszahlen ebenfalls nicht förderlich.
Am 3. April finden in Ungarn Parlamentswahlen statt, und Fidesz hat ein Referendum auf den Wahltag gelegt.
Am Wahltag werden den ungarischen Wähler:innen gleich zwei Stimmzettel ausgehändigt. Auf dem einen können sie abstimmen, ob sie die Regierungspartei, die Oppositionskoalition oder die drei bis vier Parteien unterstützen, die man mehr oder weniger als „Scheinparteien“ bezeichnen kann (wie die COVID-verleugnende Normal Life Party, die Partei eines Porno-Milliardärs, der sein Vermögen in den USA mit Live-Sex-Cam-Seiten gemacht hat, die rechtsextreme Minipartei Our Country oder die Witzpartei Two-Tailed Dogparty, die ansonsten nützliche soziale Anliegen vertritt). Zum Zweiten werden die Wähler:innen aufgefordert, ihre Meinung zum neuen Lieblingsthema von Orbáns ideologischer Kriegsführung gegen die „Gender-Lobby aus Brüssel“ zu äußern, einschließlich Fragen wie: „Unterstützen Sie die Förderung von geschlechtsangleichenden Behandlungen für minderjährige Kinder?“
Der letzte Akt des Kulturkriegs
Diese absurde Situation ist der letzte Akt des Kulturkriegs, angekündigt von Orbán in 2018 und prägend für die vergangene Amtszeit der Fidesz-Regierung: die Umstrukturierung und ideologische Neuausrichtung (der Überbleibsel) der ungarischen Medien, Wissenschaft und Kultur. Dieser Prozess wurde in Ungarn während der Pandemie eingeleitet. Das international am meisten beachtete Ereignis dieses Prozesses war der politische Angriff auf die Theater- und Filmuniversität (SZFE), euphemisiert als „Modellwechsel“, was praktisch die Reorganisation der Universität unter einer Stiftung bedeutete, die vom Direktor des Nationaltheaters (Attila Vidnyánszky) geleitet wird. Der politische Angriff wurde von einer monatelangen Reihe von Protesten und einer Blockade der Universität durch die Student:innen begleitet. In den vergangenen zwölf Jahren der Fidesz-Regierung war dies die größte zu beobachtende Welle der Solidarität in Form einer Bürger:innenbewegung – die durch die Eskalation der Pandemie ein unvermeidliches Ende fand.
Die Serie weiterer Änderungen des Universitätsmodells wurde jedoch von der Fidesz-Regierung während der Quarantänezeit ungehindert fortgeführt.
Der spektakuläre Aufstieg von Pro-Fidesz-Persönlichkeiten, die in der Vergangenheit in der Regel nur eine marginale professionelle Bedeutung hatten, hat der ungarischen Theaterstruktur die Aspekte des Kulturkriegs aufgezwungen. Fünf der „Opposition“ zugerechnete Staatstheater wurden in die Obhut der von der politischen Opposition regierten Hauptstadt überführt, darunter Trafó, das Haus der zeitgenössischen Künste, die wichtigste Spielstätte für internationales zeitgenössisches Theater und Tanz sowie für die ungarische zeitgenössische Szene. Dies und die politischen Spaltungen machen ihr langfristiges Überleben im Falle eines erneuten Fidesz-Sieges sehr fraglich.
Geld ist die wichtigste Waffe im Kulturkampf.
Wenn man eine Ideologie vertritt, die das System unterstützt, und nicht mit Künstler:innen zusammenarbeitet, die dem System missfallen, stehen einem nahezu unbegrenzte Mittel zur Verfügung (renovierte oder neu gebaute Veranstaltungsorte, höhere Gehälter, extrem hohe Subventionen). Wer als oppositionell oder nicht engagiert genug gilt, dem gehen die staatlichen Mittel aus – und das ist in Verbindung mit dem Rückgang der Zuschauer:innenzahlen eine ziemlich fatale Kombination. Während die regierungsunabhängigen Stadttheater um ihr Überleben kämpfen, befinden sich unabhängige Ensembles und Gruppen, die in der Regel von Freiberufler:innen gegründet werden, wie z. B. der Verein FreeSzFE (der sich aus protestierenden Student:innen und ihren ehemaligen Dozent:innen zusammensetzt), in einer noch schwierigeren Lage. Jede:r, der:die jetzt als Newcomer:in im Theater- oder Tanzbereich anfängt, muss einen Weg finden, mit extrem begrenzten finanziellen und infrastrukturellen Ressourcen zurechtzukommen. In der Tat muss darauf hingewiesen werden, dass der progressive zeitgenössische Tanz schon immer wenig Aufmerksamkeit (und Mittel) von der Kulturpolitik/vom Staat erhalten hat. Aus diesem Grund verfügen die Akteur:innen der Szene über große Unabhängigkeit, gute Überlebensfähigkeit und internationale Netzwerke. Gleichzeitig war die Budapester zeitgenössische Tanzakademie, das Rückgrat der Szene, in den letzten Jahren stark bedroht: Der Unterricht konnte nicht aufgenommen werden und lange Zeit war ungewiss, ob die Akademie aufgrund fehlender staatlicher Unterstützung aufrechterhalten werden kann. Eine fragwürdige Lösung kam von einem ehemaligen Zirkusdirektor und derzeitigem Kulturstaatssekretär. Er bot dem Direktor der Akademie die notwendigen Mittel und ein neues Gebäude an, unter der Bedingung, dass die Schule in ein Tanz- und Zirkusausbildungsinstitut umgewandelt würde. Die Umwandlung ist im Gange, aber das Ergebnis und die Perspektive bezüglich des Erhalts der bisherigen progressiven Ausrichtung sind noch nicht erkennbar.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass der Kulturkampf der Fidesz Regierung anstelle progressiver Tendenzen die ungarische Kultur in Richtung Mainstream-Kommerzialisierung drängt.
Progressiv ausgerichtete Akteur:innen waren auch vor der Machtübernahme der Fidesz-Regierung nicht in einer sehr guten Position. Seit der Machtübernahme werden sie jedoch stetig in eine Art „sekundäre Öffentlichkeit“ gedrängt (Unter sekundärer Öffentlichkeit versteht die ungarische Kulturgeschichte das von den 1970er Jahren bis zum Sturz des Regimes bestehende informelle Netzwerk, das in Form von Samizdat, Vorträgen, Vorführungen und Aufführungen in Privathäusern usw. in halber Illegalität funktionierte und dessen kulturhistorische Wirkung viel länger anhielt als die der offiziellen Öffentlichkeit), ähnlich wie zu Zeiten des Staatssozialismus vor 1989. Die mittlere Generation der wichtigsten ungarischen Theaterregisseure (Árpád Schilling, Viktor Bodó und Kornél Mundruczó) inszeniert kaum noch in Ungarn. Durch den verstärkten internationalen Austausch ist die Situation für den zeitgenössischen Tanz flexibler geworden – in dieser Spielzeit gehört die neue Hodworks-Kreation Harmonia auch zum Repertoire des Theater Bremen. Wir, die um die dreißigjährigen Künstler:innen der ungarischen Theater- und Tanzszene, sind täglich mit der Frage konfrontiert, was und wie wir in Ungarn kreativ arbeiten können.
Was ist unsere Aufgabe in einem System, in dem unsere Bildungs- und wichtigsten Kultureinrichtungen im besten Fall unter ständigem politischem Druck und im schlimmsten Fall unter völligem Angriff stehen?
Viele von uns sind der Meinung, dass die Wahlen am kommenden Sonntag wegweisend sein werden und dass sie trotz der Desinformationskampagnen der staatlichen Propagandamedien im Stile Putins sehr eng ausgehen werden. Nun, wenige Tage vor der Wahl, stellt sich natürlich die Frage, ob die darauffolgenden Tage und Jahre überhaupt ein günstiges Szenario bieten können. Denn als Folge der Auslagerung von Staatseigentum, des Kulturkampfes und der nepotistischen Vernetzung des Schattenstaates werden Fidesz und Orbán so oder so ernstzunehmende Machtakteure bleiben.
+++ English version +++
Turbulent years
Dramaturge Ármin Szabó-Székely, who works with HODWORKS, on the Hungarian contemporary dance scene during the COVID pandemic and the upcoming parliamentary elections in Hungary.
Hungarian culture has experienced turbulent years. In traditionally theater-loving Budapest, theaters are now feeling the effects of the COVID pandemic. Attendance has halved, even though the case numbers are on decline and the government is lifting the general obligation to wear a mask. The war in our neighbouring country Ukraine and inflation are not doing theatre attendance any favour.
Parliamentary elections will be held in Hungary on the 3rd of April, and Fidesz has timed a referendum to coincide with the elections.
On election day, Hungarian voters will be handed two voting papers: one to vote on whether they support the governing party, the opposition coalition, or the three to four parties that can be considered more or less ”fake parties” (like the COVID-denying Normal Life Party, the party of a porn billionaire businessman who made his fortune in the US from live sex cam sites, the extremist far-right mini-party called Our Country, or the joke party called the Two-Tailed Dogparty, which promotes otherwise useful social causes). On the other hand, voters are requested to express their views on the new favourite topic of Orbán's ideological warfare, the "gender lobby from Brussels", including questions such as: „Do you support the promotion of gender reassignment treatments for underage children?”
The final act of the culture war
This absurd situation is the final act of the culture war that characterised the last term of the Fidesz government, and which Orbán announced in 2018: the restructuring and ideological re-alignment of the (remnants of) Hungarian media, science and culture. The process was initiated in Hungary during the pandemic. The most internationally resonant event of this process was the political attack on the University of Theatre and Film Arts, euphemised as "model change", which practically meant the reorganisation of the university under a foundation led by the director of the National Theatre (Attila Vidnyánszky). The political attack was accompanied by a months-long series of protests and a student blockade of the university. During the past 12 years of Fidesz governments, the biggest wave of solidarity in the form of a civil movement could be observed – brought to an inevitable end by the escalation of the pandemic.
The series of further university model changes, however, was carried out uninterrupted by Fidesz during the quarantine period.
The spectacular rise of pro-Fidesz figures, typically of marginal professional importance in the past, has forced the aspects of the culture war on the Hungarian theatre structure. Five state theatres labelled as „opposition” have been transferred to the maintenance of the opposition-led capital, including the Trafó House of Contemporary Arts, which is the most important venue for international contemporary theatre and dance as well as the Hungarian contemporary scene. This, alongside the political divisions, makes their long-term survival highly questionable in the event of another Fidesz victory.
Money is the most important weapon in the culture war.
If you represent an ideology that the system supports and refrain from collaborating with artists disliked by the system, the resources available to you are almost endless (renovated or newly built venues, increased salaries, extremely large subsidies). If you are considered oppositional or not committed enough, the state fund will run out – and that, combined with the decline in audience numbers, is a pretty fatal combination. While the non pro-government now-city theatres are struggling to make ends meet, independent companies and groups, typically formed by freelancers, including the FreeSzFE association (made up of protesting students and their former teachers) are in an even more difficult situation. Anyone starting out now as a newcomer to theatre or dance has to find a way to cope with extremely limited financial and infrastructural resources. As a matter of fact, it must be pointed out that progressive contemporary dance has always received little attention and resources from cultural policy. As a result, the participants in the scene have an independence-seeking mentality, good survival skills and are embedded in international networks. At the same time, the Budapest Contemprary Dance Academy, the scene's backbone, has been under threat over the last years: Classes were unable to start and for a long period of time it it was uncertain whether the academy could be sustained due to a lack of state support. A questionable solution came from a former circus director, now cultural state secretary, who offered the academy's current director the necessary funds and a new building, if the school would be reprofiled as a dance and circus training institute. The transformation is underway, but the outcome and the sustainability of the previous progressive direction are not yet evident.
In sum, instead of progressive tendencies, Fidesz's cultural struggle is pushing Hungarian culture towards mainstream commercialisation.
The progressives were not in a very good position before the Fidesz government came to power either, but now they are slowly being squeezed into a kind of 'secondary public sphere' (by the secondary public sphere, Hungarian cultural history understands the informal network that existed from the 1970s until the fall of the regime, which operated in semi-illegality, in the form of samizdat, of lectures, screenings and performances held in private homes etc., and whose cultural-historical impact was much longer lasting than that of the official public sphere), simmilary to the times of state socialism before 1989. The middle generation of the most important Hungarian theatre directors (Árpád Schilling, Viktor Bodó and Kornél Mundruczó) hardly ever direct in Hungary anymore. Due to greater international exchange available, the situation is more flexible for contemporary dance - this season the new Hodworks creation, Harmonia, is also part of the repertoire of Theater Bremen.
We the thirtyish artists of the Hungarian theatre and dance scene, are confronted with the question of what and how to create in Hungary on a daily basis.
What is our task in a system where our educational and most important cultural institutions are under constant political pressure at best, and complete attack at worst? Many of us feel that this Sunday's election will be a landmark one, with a very close contest predicted, despite the Putin-style disinformation ploys of the state propaganda media. With elections only a few days away, the question of course is whether the days and years that follow will offer any kind of favourable scenario. For, as a consequence of the outsourcing of state property, the culture war and the nepotistic shadow state networking, Fidesz and Orbán will, one way or another, remain a serious power actor.
Veröffentlichung: 1.4.22