Ungefähr 34 Femizide noch, dann ist Weihnachten
Über Männer, die (nicht) aus Liebe töten, Zahlen als Dokumente des Versagens und fehlende Anlaufstellen für Frauen. Gedanken der Dramaturgin Frederike Krüger anlässlich des Internationalen Tags zur Beseitigung der Gewalt gegen Frauen am 25. November.
„Und jeder tötet, was er liebt“, hat Oscar Wilde geschrieben. 1898, aus dem Gefängnis heraus, kurz vor seinem Tod. Wilde, der wegen seiner Bi-Sexualität zu zwei Jahren Haft verurteilt wurde, erlebte die Hinrichtung eines Mithäftlings, der wegen Mordes angeklagt war. Aus Eifersucht soll dieser seine Ehefrau umgebracht haben. Eifersucht, Liebe… Wildes Zitat zeigt und bedient gleichermaßen ein falsches Narrativ, dass die Gewalt an Frauen, die Tötung eines Mädchens Liebe sei. Ein spontanes Verbrechen aus Leidenschaft angesichts überbordender Gefühle. Dabei ist das Gegenteil der Fall.
Gewalt gegen Frauen und FLINTA*-Personen hat System.
Besonders in den Fokus rückt die globale Gewalt gegen Frauen und Mädchen am 25. November. Ein kurzer Rückblick in die Geschichte des Tages: Am 25. November 1960 wurden drei von vier Schwestern der Familie Mirabal getötet, ihre Namen waren: Patria, Minerva und Maria Teresa. Sie wurden monatelang vom militärischen Geheimdienst der Dominikanischen Republik gefoltert und schließlich ermordet. Sie waren politisch aktiv, organisierten sich gegen die brutale Diktatur von Rafael Trujillo, unter der die Dominikanische Republik über 30 Jahre zu leiden hatte. Dedé Maribel war die einzige, die überlebte. Bis zu ihrem Tod 2014 hielt sie die Widerstandskraft ihrer Schwestern lebendig. 1981 erinnerten lateinamerikanische und karibische Feministinnen an das Schicksal der drei Schwestern und erklärten ihren Todestag zum Internationalen Tag gegen Gewalt an Frauen.
1993 verabschiedete die Generalversammlung der Vereinten Nationen die Declaration on the Elimination of Violence against Women, die Erklärung über die Beseitigung der Gewalt gegen Frauen.
Ende 1999 beschloss sie, den 25. November zum Internationalen Tag zur Beseitigung der Gewalt gegen Frauen zu ernennen. Seither wird an diesem Tag jährlich durch weltweite Aktionen auf die gegen Frauen und Mädchen ausgeübte Gewalt aufmerksam gemacht. Gebäude erstrahlen in orangenem Licht, Parteien verteilen Rosen, Statistiken flackern über die Fernsehbildschirme der Wohnzimmer … Ein Tag, ein heißer Tropfen? Für all diejenigen, die jeden Tag im Schatten stehen, die sich an den Rosen längst die Finger aufgeschnitten haben, deren Lebensrealität für die meisten zwischen Aktienkurs und Wolkenbruch kaum einen Blick wert ist, geschweige denn einen Aufschrei … Ein jeder tötet, was er liebt. Ein Irrtum. Oder werden rund 50 Prozent der Weltbevölkerung etwa so sehr geliebt, dass sie jeden Tag unterschiedlichsten Formen von Gewalt ausgesetzt sind? Es hält sich wacker, diese Idee, wenn schon Goethe meinte: Ich liebe dich, mich reizt deine schöne Gestalt; und bist du nicht willig, so brauch‘ ich Gewalt. Und das alle vier Minuten.
Alle vier Minuten schlägt ein cis-Mann zu und das nicht im dunklen Park, sondern im Heim, das er zur Hölle macht.
Alle vier Minuten wird in Deutschland ein Mann zum Täter. 132.966 Frauen haben im Jahr 2023 Gewalt durch ihren Partner oder Ex-Partner erlebt. 2023 wurden 938 Mädchen und Frauen Opfer von versuchten oder vollendeten Tötungsdelikten. Am 18. November 2024 veröffentlichten Bundesinnenministerin Nancy Faeser und Bundesfrauenministerin Lisa Paus gemeinsam mit dem Vizepräsidenten des Bundeskriminalamts, Michael Kretschmer, in Berlin das erste Lagebild Geschlechtsspezifisch gegen Frauen gerichtete Straftaten. Es stellt zum ersten Mal Zahlen aus unterschiedlichen Datenquellen zusammen und stellt umfassend dar, dass Frauen und Mädchen in vielerlei Hinsicht Opfer von Straftaten und Gewalt werden, weil sie Frauen sind. In allen Bereichen der Statistik sind die Zahlen 2023 im Vergleich zum Vorjahr gestiegen. Nochmal: 938 Mädchen und Frauen wurden Opfer von versuchten oder vollendeten Tötungsdelikten, dies entspricht einem Anteil von 32,3 Prozent aller Opfer von Tötungsdelikten. Der Anteil an weiblich gelesenen Opfern, die im Zusammenhang mit partnerschaftlichen Beziehungen Opfer von Tötungsdelikten wurden, liegt bei 80,6 Prozent. 360 Mädchen und Frauen wurden Opfer einer vollendeten Tötungstat. 2023 ist beinahe jeden Tag ein Femizid verübt worden, also die Tötung einer Frau oder eines Mädchens aufgrund des Geschlechts. 52.330 Frauen und Mädchen wurden Opfer von Sexualstraftaten, hiervon war über die Hälfte unter 18 Jahre alt. Besonders stark ist der Anstieg der Digitalen Gewalt: Über 17.193 Frauen und Mädchen wurden im vergangenen Jahr Opfer Digitaler Gewalt, zum Beispiel von Cyberstalking oder anderen Delikten, die mittels Nutzung von Sozialen Medien begangen wurden. 70,5 Prozent der Betroffenen häuslicher Gewalt sind Frauen und Mädchen, das sind 180.715 Opfer im Berichtsjahr. Die Täter? In ihrem direkten sozialen wie häuslichen Umfeld zu finden. 591 Frauen und Mädchen fielen Menschenhandel zum Zweck der sexuellen Ausbeutung, Zuhälterei und Prostitution zum Opfer. Frauen und Mädchen unter 21 Jahren machen mit 31,5 Prozent beinahe ein Drittel der weiblichen Opfer aus. Besonders hoch ist der Anstieg bei frauenfeindlichen Straftaten als Teil der politisch motivierten Kriminalität. Der Anstieg auf 322 Straftaten 2023 im Vergleich zum Vorjahr beträgt 56,3 Prozent.
Zahlen, Fakten, Statistiken … versuchen zu verdeutlichen, dass es nicht die Liebe ist, die tötet.
Es sind, im weit überwiegenden Teil, Männer. Die nicht aus Liebe töten, sondern aus einem patriarchal geprägten Besitzanspruch heraus, dass FLINTA* ihnen unterlegen sind, in allen Bereichen des gesellschaftlichen Zusammenlebens. Statistiken, die nicht von einem binären Geschlechtersystem ausgehen, gibt es bisher nicht. Wichtig ist jedoch zu verstehen, dass nicht nur Frauen und Mädchen von geschlechtsspezifischer Gewalt betroffen sind, sondern alle FLINTA*-Personen (cis Frauen, also Frauen, deren Geschlechtsidentität dem Geschlecht entspricht, das ihnen bei der Geburt zugeschrieben wurde, Lesben, inter*, nicht binäre, trans*, agender und weitere Personen). Sie sind alle von patriarchalen Strukturen, stereotypen Geschlechterrollen und der daraus hervorgehenden Gewalt betroffen.
Alle sitzen in einem Boot, aber nicht im selben.
Frauen und FLINTA* sind weltweit von Gewalt betroffen, doch ihre jeweilige Gewalterfahrung ist von unterschiedlichen Diskriminierungsformen geprägt, die sich wiederum gegenseitig beeinflussen oder sogar verstärken. So sind beispielsweise FLINTA* mit Behinderung überdurchschnittlich oft von Gewalt in körperlicher, psychischer und sexualisierter Form betroffen. In Kriegsgebieten werden verschiedene Formen von „alltäglicher Gewalt“ zur Waffe gegen Frauen und FLINTA* – von sexualisierter Gewalt über Vergewaltigungen bis hin zu Völkermord. Frauen mit Migrationsgeschichte, BIPoC oder ähnlichen Positionierungen sind öfter Zielscheibe von geschlechtsspezifischer Gewalt.
Und diese Gewalt ist keine Privatsache.
Sie ist auch keine individuelle Frage, die sich durch die Aggressivität einzelner Männer erklären lässt. Gewalt an Frauen und FLINTA* ist direkt mit gesellschaftlichen Strukturen verbunden und potenziert sich in gesellschaftlichen Krisensituationen wie Arbeitslosigkeit, aus denen Finanznot und Existenzangst resultieren. Durch finanzielle, strukturelle und soziale Abhängigkeit von ihren (Ex-)Partnern (oder Vätern und Brüdern), sind die von Gewalt Betroffenen ihrer Situation oftmals ausgeliefert. Außerdem werden immer mehr öffentliche Schutzräume, von denen es sowieso nicht genug gibt, geschlossen oder sind unterfinanziert.
Selbst wenn sie flieht bei Nacht und Wind mit ihrem Kind – wo soll sie hin?
Der Mangel an bezahlbarem Wohnraum, die 14.000 Frauenhausplätze, die fehlen, FLINTA*-Personen, die in keinem Schutzkonzept bedacht werden, wo sollen sie hin? Also bleiben sie. Im Schatten, nicht mal in der Statistik – aus Scham, aus Angst, aus Resignation. Weil sie keinen Zugang haben zu den sowieso schon zu wenigen Anlaufstellen, die sie auffangen könnten. Weil die Polizei für viele von ihnen kein Freund und Helfer ist. Weil sie ohne Überwachung nicht auf die Toilette dürfen. Weil sie vielleicht nicht mal wissen, dass es irgendwo Hilfe geben könnte. Oder es schlicht keine Hilfe gibt. Oder nur Hilfe, die kostet. Geld, im Zweifelsfall ihr Leben. Also bleibt auch die Gewalt. Im Privaten, wo Politik und Gesellschaft sie und ihre Ursache beheimatet wissen möchte. Probleme unter den Teppich, die Frau unter die Erde. Die Zahlen sind keine Statistik, sondern Dokument des Versagens, des Wegschauens und der Lippenbekenntnisse einer Gesellschaft, die zu Gleichberechtigung und Fortschritt die grundlegendste Aufgabe nicht erfüllt: Die Hälfte ihrer Menschen zu schützen. Ungefähr 34 Femizide noch, dann ist Weihnachten.
Veröffentlicht am 22. November 2024