Veränderung, ein reiner Glücksfall?

Der Verhaltenskodex zur Prävention von Machtmissbrauch, ein Text von Marianne Seidler.

Die #MeToo Bewegung hat nicht nur in der Filmbranche, sondern auch an deutschen Stadttheatern Diskussionen in Gang gebracht, die längst überfällig waren. Damit diese Gespräche auch in einer spürbaren Veränderung münden, haben wir am Theater Bremen in diesem Jahr einen individualisierten Verhaltenskodex zur Prävention von sexuellen Übergriffen und Machtmissbrauch nach dem Beispiel des Deutschen Bühnenvereins verabschiedet. Er ist bindend für alle Mitarbeiter*innen des Hauses und wird Teil aller zukünftig geschlossenen Verträge und Gastverträge sein. Im besten Fall ist das ein weiterer Schritt für einen umfassenden Kulturwandel.

Ausschnitt Verhaltenskodex Deutscher Bühnenverein:

„Es ist daher nicht angebracht, die persönliche Sphäre anderer zu überschreiten, unter anderem durch:

  • die (auch versuchsweise) Erzwingung sexueller Handlungen mittels Gewalt oder Androhung von Gewalt
  • direkte/indirekte Drohung mit Nachteilen für die Ablehnung von Avancen
  • Versprechen von Vorteilen für sexuelle Zugeständnisse
  • Zeigen oder Verbreiten von Pornografie
  • anzügliche und sexualisierte Bemerkungen, Witze und Gesten
  • abfällige Bemerkungen über den Körper, die Sexualität oder die sexuelle Orientierung Anderer
  • nicht einvernehmliche körperliche Berührungen
  • Verlangen nach sexueller Aufmerksamkeit.

Auf Basis der oben angeführten Werte verpflichten wir uns auf verbindliche Verhaltensregeln fur alle Mitarbeiter*innen in unseren Häusern, unabhängig von ihrer Position:

  • Ich unterlasse jede Form von sexueller Belästigung.
  • Ich unterlasse Übergriffe in gestischer, sprachlicher und körperlicher Form.
  • Ich schreite aktiv ein, wenn ich Zeug*in von Übergriffen, Machtmissbrauch und unangebrachtem Verhalten jeglicher Art werde und spreche unangemessenes Verhalten direkt an.

Liest man das, sollte man meinen, dass wäre gesellschaftlicher Konsens.

Man denkt reflexartig: Naja, dafür brauche ich doch keinen Kodex, das ist doch klar, dass das nicht geht oder sogar strafrechtlich verfolgt werden könnte. Die Fälle, die medial immer wieder zu Tage treten, deuten jedoch darauf hin, dass diese Grenzüberschreitungen dennoch stattfinden. Und natürlich meist dort, wo die Machtgefälle und Abhängigkeiten groß sind. Diese Fälle treten von Haus zu Haus in unterschiedlichem Maße auf, daher muss verdeutlicht werden, dass dieser Kodex am Theater Bremen auch und vor allem zur Prävention dient. Es sollte einen angstfreien Umgang mit dem Thema des Machtmissbrauches geben, denn so kann möglichen Betroffenen Handlungsspielraum eröffnet werden und sie können präventiv geschützt werden. 2018 wurden Katja Fritzsche und ich am Theater Bremen zur Frauenbeauftragten gewählt. Im selben Jahr fand die Jahreshauptversammlung des Deutschen Bühnenvereins statt, auf dem der 2-seitige Verhaltenskodex verabschiedet wurde. Wie dieser in den Theatern implementiert und gelebt werden soll, wurde den jeweiligen Häusern und Leitungsebenen überlassen. Auch unsere Leitung, der Intendant Michael Börgerding und der Geschäftsführer Michael Helmbold, wollten diesen Kodex an unserem Haus verabschieden. Damit dieser jedoch nicht als reine Symbolpolitik in den Schreibtischen verschwindet, einigten wir uns gemeinsam auf eine langfristige Beteiligungsstrategie. Wir Frauenbeauftragte und unsere Leitung erhofften uns davon, dass der Kodex dann auch im Alltag umgesetzt und gelebt wird.

Ohne für das Thema immer wieder Gesprächsräume zu eröffnen, Betroffene zu stärken und breit zu sensibilisieren, bleibt der Kodex ein zahnloser Tiger.

Die gemeinsame Strategie sollte also nachhaltig sein, auf Beteiligung abzielen und Raum für Fragen und Unsicherheiten eröffnen. Zunächst veranstalteten wir eine Auftaktveranstaltung für alle Mitarbeiter*innen mit der Landesfrauenbeauftragten Bettina Wilhelm, um das Thema breit zu streuen und erste Rückmeldungen zu bekommen. Das ermutigte uns, noch intensiver in den Betrieb „reinzuhorchen“: Es folgten zwei Frauenversammlungen, fachliche Beratung durch die Vertrauensstelle Themis und die Gründung der AG Verhaltenskodex, die sich glücklicherweise sehr heterogen, was Geschlecht und Hierarchieebene betrifft, zusammenstellte und sich nun seit über einem Jahr regelmäßig trifft und austauscht. Ab diesem Zeitpunkt wurden wir zusätzlich unterstützt von Ferdaouss Adda, der Referentin für interkulturelle Öffnung am Theater Bremen. In der AG wurden Formulierungsfragen besprochen, die Kommunikation mit den Abteilungen umgesetzt und wir beschäftigten uns mit der Frage, wie das Thema nachhaltig etabliert werden kann. Schnell wurde deutlich, dass diese Debatte auf großes Interesse trifft und das Potenzial birgt, einen umfassenden Kulturwandel fortzuführen, der inhaltlich unterfüttert und begleitet werden sollte. Unser Geschäftsführer Michael Helmbold stellte den Kodex dann auch in den Abteilungsgesprächen den Mitarbeiter*innen vor. Im Verlauf fand eine weitere Mitarbeiter*innenversammlung mit der ADA (Antidiskriminierung in der Arbeitswelt) und anschließenden Open Spaces statt. Durch die breite Auseinandersetzung mit dem Thema des Machtmissbrauchs, entstand der Wunsch aller Beteiligten, den Kodex zu erweitern ohne ihn zu verwässern. Im weiteren Prozess wurden auch rassistische Diskriminierung und Diskriminierungen anderer Art definiert und mit aufgenommen.

Dieses langfristige Vorgehen zahlte sich aus, weil sich der Kodex nun auf eine breite Basis stützt und just Mitte Januar als Betriebsvereinbarung beschlossen wurde.

In der Studie „Macht und Struktur im Theater“ von Thomas Schmidt aus dem Jahr 2019 wurden 1966 Mitarbeiter*innen an deutschen Theatern befragt. 55 Prozent der Befragten haben Machtmissbrauch erfahren. In 284 Fällen wurden sexuelle Angebote ausgesprochen oder sexuelle Übergriffe ausgeübt. Auf die Frage, ob und vom wem es Angebote für eine Rolle, ein Engagement oder eine Gagenerhöhung gegen sexuelle Gegenleistungen gab antworteten die Befragten wie folgt: 96,5 Prozent der Menschen die diese Angebote gemacht haben waren Männer. Davon waren 35 Prozent Regisseure und 30 Prozent Intendanten. Die restlichen Prozente verteilen sich jedoch auf ähnliche Machtpositionen: Chefdramaturg, musikalischer Leiter, Verwaltungsdirektor. Verbindet man diese Fakten mit der Selbstverpflichtung die im Kodex des Deutschen Bühnenvereins beschrieben wird, stößt man auf ein grundlegendes systematisches Problem: „Um dieses Ziel zu erreichen, ist es notwendig, dass sich alle Theater und Orchester und die Rechtstrager die Zeit und den Raum nehmen, sich mit dem Thema zu befassen, eigene Prozesse kritisch zu hinterfragen und die hier statuierten Werte in ihrem eigenen Alltag umzusetzen.“ Mit anderen Worten: Kein*e Intendant*in ist dazu verpflichtet, sich diesem strukturellen Problem anzunehmen. Es ist leider kaum eine andere Konklusion möglich:

Es wird zum reinen Glücksfall für die Mitarbeiter*innen, ob eine Leitungsriege sich grenzüberschreitender Verhaltensweisen aktiv entgegenstellt oder diese weiterhin geduldet werden.

Bei uns am Theater Bremen war das zum Glück keine Frage. Michael Börgerding und Michael Helmbold wollten ausdrücklich einen Kodex verabschieden und so befinden wir uns noch immer mitten im Prozess. Katja Fritzsche und Ferdaouss Adda, die den Kodex mit vorantrieben, streben gemeinsam mit der AG ein Beschwerdeverfahren an, welches im Falle der Missachtung des Kodexes greifen könnte. Darüber hinaus haben sie ein umfassendes Maßnahmenpaket mit Workshops und Schulungen geschnürt. Am Theater Bremen sind wir gemeinsam auf einem guten Weg, aber Veränderung wird unser Normalzustand werden – müssen.

Hier können Sie sich den verabschiedeten Verhaltenskodex des Theater Bremen in Deutsch und Englisch herunterladen.

Zum Verhaltenskodex des Deutschen Bühnenvereins finden Sie hier.

Und die Vertrauensstelle gegen sexuelle Belästigung und Gewalt e.V. für Medienschaffende finden Sie hier.

 

Marianne Seidler ist Schauspieldramaturgin und war gemeinsam mit Katja Fritzsche Frauenbeauftragte am Theater Bremen. Inspiriert von Strukturfragen und Veränderungsprozessen ließ sie sich zur Organisationsberaterin und Changemanagerin ausbilden und berät extern.