Vergessen Sie es! #4 Polizeipräsident Lutz Müller

Brigitte Heusinger denkt über die Stadt nach, in der sie aufgewachsen ist: Bremen. Und manchmal trifft sie auch Bremer*innen. Aus aktuellem Anlass dieses Mal den Leiter des Corona-Krisenstabs und Bremer Polizeipräsidenten Lutz Müller.

Die Kolumne lebt normalerweise von einer recht persönlichen Sicht auf Dinge und Menschen. Doch jetzt in der Corona-Krise werden wir alle in unsere Haushalte, in unseren engsten Lebensraum zurückgeworfen. Als Folge lassen sich Unmengen von Homestories im Internet finden, das Private wird das Öffentliche, Befindlichkeiten machen sich breit. Daher ist meine persönliche Befindlichkeit gerade, eine unbefindliche Kolumne zu machen, die keine Kolumne ist, sondern ein Gespräch. Dafür habe ich jemanden getroffen, der in der Bewältigung unserer schwierigen Zeit an vorderster Front steht. Von ihm möchte ich etwas über seine Arbeit erfahren und ob es einen speziellen Bremer Umgang mit der Krise gibt.

Also habe ich mich ins Herz des Krisenstabes, in die Feuerwache 1, begeben.

Dort wurde mir als Einstieg unseres Gespräches das aktuelle Lagebild präsentiert, so wie allmorgendlich dem Krisenstab. Ich sehe sie also vor mir, die aktuelle Lage des Tages, an dem unser Gespräch stattfindet: die Infektionsraten, aufgeschlüsselt nach verschiedenen Kriterien, aber auch die Anzahl der verfügbaren „beatmungsfähigen Intensivbetten, die mit Personal hinterlegt sind“. Dieses Verhältnis sieht an meinem Besuchstag gut aus.

Brigitte Heusinger: Diese Balance zwischen Infektionsrate und Bettenkapazität im Auge zu behalten, ist deutlich eine der ganz großen Aufgaben. Was tut der Krisenstab noch?

Lutz Müller: Im Wesentlichen beschäftigen wir uns mit drei Arbeitsfeldern. Erstens mit den konzeptionellen Dingen, also dem Blick nach vorne: Stimmen die Abläufe, stimmen die Kapazitäten, auch für den Fall, dass die Infektionsraten deutlich steigen. Das dringendste Thema war am Anfang die Verfügbarkeit von persönlicher Schutzausstattung. Wir haben hier im Auftrag des Gesundheits- und des Finanzressorts die Beschaffung grundlegend neu aufgestellt und mit Woman-/ Manpower versehen. Aktuell ist das kein Problem mehr.
Das zweite sind operative Dinge, also das konkrete Reagieren auf Problemfelder. Beispielsweise die Planung der kurzfristigen Verlegung von Seniorinnen und Senioren aus einer Pflegeeinrichtung oder so etwas wie die sehr schnelle Übernahme von den zwei Patienten, die aus Straßburg zu uns gekommen waren.

Der dritte Part ist die Begleitung der Lockerungen und deren Konsequenzen. Wenn die Kinder wieder zur Schule gehen und der Wirtschaftsbetrieb hochgefahren wird, haben wir sofort eine neue Situation im öffentlichen Nahverkehr. Man muss quer denken und Probleme voraussehen. Bisher ist es uns immer gelungen, diese Fragen rechtzeitig zu diskutieren, so dass wir uns einstellen konnten.

Was passiert hier im Krisenstab, nachdem die Morgenlage verkündet ist?

Lutz Müller: Es werden die dringenden Themen besprochen, die der Abstimmung bedürfen: Beispielsweise welche Probleme gibt es in den Pflegeeinrichtungen, wie sieht da der Eskalationsplan aus? Was machen mit der Landeserstaufnahmestelle, wenn die Infektionszahlen hochgehen? Wie ist das Vorgehen für eine Abverlegung, wenn also Menschen aus der Einrichtung raus möchten? Wie gehen wir mit einer Erstaufnahme um, also, dass Menschen, die nach Bremen kommen, auch wirklich aufgenommen werden können?

Wir analysieren die Lage auf zwei Ebenen. Wie entwickelt sich die Infektionsrate in Bremen? Stellt sie im Vergleich zu den anderen Bundesländern ein Problem dar oder zeigt sich ein normaler Verlauf? Wir versuchen, immer mal wieder Prognosen anzustellen, was aber sehr schwierig ist, gerade unter der Voraussetzung, dass sich Parameter ändern, wie jetzt bei den Lockerungen. Welche Auswirkungen sie haben, darüber können wir nur spekulieren.

Und wir fahren auf Sicht: Sind die medizinischen Einrichtungen noch in der Lage, das, was kommt, vernünftig zu verarbeiten? Beispielsweise hatten wir in den letzten Wochen einen Anstieg in den Infektionszahlen durch die Fälle in der Landeserstaufnahmestelle, im Bereich der intensivmedizinischen Kapazitäten gab es eher eine Entlastung, da die meisten Betroffenen keine Symptome oder einen leichten Krankheitsverlauf aufwiesen.

Gibt es einen speziellen Bremer Stil im Umgang mit der Krise?

Lutz Müller: Wir sind mit den Vertretern anderer Krisenstäbe im Austausch, und eigentlich läuft es im Grundsatz überall ähnlich. Ein relevanter Unterschied ist allerdings, dass in den sonstigen Kommunen und Landkreisen der Bürgermeister oder die Landrätin sagen kann, wo es lang geht. In Bremen gibt es keine Richtlinienkompetenz des Bürgermeisters und damit auch kein Durchgriffsrecht. Es gilt das Ressortprinzip. Das macht die Arbeit für uns aber nicht grundsätzlich schwerer, weil es einen gemeinsam getragenen Willen gibt. Bei unterschiedlichen Sichtweisen an Zuständigkeits-Schnittstellen wird nach einer gemeinsamen Beratung in der Regel die Entscheidung des Leiters des Krisenstabs akzeptiert. Aber es könnte auch passieren, dass wir keinen Konsens erzielen, dann habe ich als Leiter des Krisenstabs nur ein begrenztes Mandat und muss das im Senat eskalieren. Diese Situation hatten wir aber noch nicht.

Eine typisch bremische Entscheidungskultur?

Lutz Müller: Das würde ich schon sagen. Es ist ein Ausdruck von Demokratie. Vor allem in Friedenszeiten kann man durch längere Abstimmungsprozesse zu einem guten Ergebnis kommen, im Krisenfall kann es schwierig sein, wenn Entscheidungen in einem kleinen Zeitfenster getroffen werden müssen. Unsere Haltung ist da eher pragmatisch. Schnell getroffene Entscheidungen, die in der Regel durch eine Beratung geprägt sind, lassen sich ja auch im Nachhinein noch im Grundsatz klären. Wir arbeiten jetzt seit sechs Wochen in dieser Art von Krisenverarbeitung zusammen. Da baut man Vertrauen auf und eine Basis, auf der sich handeln lässt.

Und sind die Bremer Entscheidungen inhaltlich anders als in anderen Bundesländern?

Lutz Müller: Bremen passt sich schon dem Mainstream an und hat auch keine andere Chance. Nicht nur weil wir so klein sind, sondern auch weil die Beschlüsse, die rundrum getroffen werden, Einfluss auf Bremen haben. Wir können und wollen keine Mauern hochziehen und Brücken kappen.

Wie werden die sogenannten Maßnahmen auf der Straße durchgesetzt?

Lutz Müller: Wir setzen nach wie vor auf die Akzeptanz der Bevölkerung. Und die Rückmeldungen aus dem Bereich Polizei und Ordnungsamt zeigen, dass das im Prinzip funktioniert. Die Frage ist, wie lange hält man das durch, wenn immer mehr freigegeben wird.

Man muss gut kommunizieren. Man muss erklären, warum etwas nicht mehr erlaubt ist, warum es gut ist, sich an die Beschränkungen zu halten. Und zwar in verschiedenen Sprachen, über verschiedene Kanäle. Alle Zielgruppen müssen erreicht und die Bevölkerung mitgenommen werden. Nach Beendigung des Shut Downs vielleicht noch mehr als vorher.

Wie lange kann man Krise fahren?

Lutz Müller: Für Menschen, die in der wirklichen Krisenbewältigung arbeiten, wie die Menschen in den Krankenhäusern, der Pflege oder im Gesundheitsamt, ist es noch einmal anders und natürlich nicht mit dem zu vergleichen, was wir hier tun. Aber auch wir haben uns so organisiert, dass wir rund um die Uhr verfügbar sind, um eine schnelle Reaktion zu ermöglichen. Der tägliche Lagebericht wird auch am Wochenende erstellt und bewertet. Das wird nicht auf unendliche Zeit funktionieren. Fachleute sagen, dass es erst eine richtige Entspannung geben wird, wenn der Impfstoff kommt oder die Bevölkerung die Epidemie soweit durchlaufen hat, dass es eine höhere Resistenz gibt. Im Grunde versuchen wir uns so aufzustellen, dass im Herbst Teile unserer Arbeit wieder in die Alltagsversorgung gehen und nur eine Rumpfmannschaft bestehen bleibt, die nicht ständig arbeitet, aber aufgerufen werden kann.

Wie ist Ihr persönliches Gefühl, wie sich die Pandemie entwickeln wird?

Lutz Müller: Ich kann das nicht einschätzen. Die Mediziner sagen, dass wir noch vor der Welle stehen bzw. wir mit weiteren Wellen zu rechnen haben bis ein wirksamer Impfstoff eingesetzt werden kann. Die Frage ist nur, wie sich das in Bremen darstellen wird. Gibt es einen richtigen Peak nach oben oder eine hoffentlich gleichmäßige Belastung, das ist die spannende Frage.

Der beste Ausgang ist wohl, dass wir hinterher sagen, dass alles übertrieben gewesen ist.

Lutz Müller: Da wär ich nicht böse drum. Aber ich glaube nicht, dass wir die Krise wirklich hinter uns haben, und wir sagen können, das war es jetzt. Das müsste dann wirklich an der Seeluft gelegen haben.

Ist es in dieser Dauerlage schwierig, die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu motivieren?

Lutz Müller: Natürlich ist es nicht immer leicht, alle sensibel zu halten. Vor allem in einer Zeit, in der alle über Lockerungen reden. Unser Job ist es, die Krise zu bewältigen, die Auswirkungen der Pandemie so gering wie möglich zu halten. Wir sind nicht die Typen, die die Pandemie bekämpfen, sondern wir schaffen die Struktur. Wir versuchen, die richtigen Fragen zu stellen. Wir versuchen, diejenigen, die es nicht gewohnt sind, im Krisenmodus zu arbeiten, zu unterstützen und gemeinsam Lösungen zu erarbeiten. Oft wird ja viel über Probleme geredet, aber nicht über Lösungen, und manchmal werden auch Probleme verwaltet. Hier geht es darum, lösungsorientiert zu arbeiten, und das ist das Schöne daran. Das motiviert.