Vom Bosporus bis zum Rhein, scheint die Sonne überall

60 Jahre Anwerbeabkommen: Ozan Ata Canani gibt im Rahmen der KÜLTÜRALE ein Konzert im Theater Bremen. Franziska Anastasia Lentes studiert an der Kunsthochschule Berlin Weißensee und hat Canani im Rahmen eines künstlerischen Rechercheprojekts bei mehreren Auftritten begleitet.

Ozan Ata Cananis Geschichte klingt fast wie ein musikalisches Märchen. Die Kurzfassung: 1963 in Maraş in der anatolischen Provinz geboren, folgte er im Alter von zwölf Jahren seinen Eltern, die wenige Jahre zuvor ihre Heimat in der Türkei verlassen hatten, um Arbeit und Wohlstand zunächst in Bremerhaven zu finden. Ata, der sein Dorf nur ungerne hinter sich lassen wollte, schenkten sie als Trost für den Aufbruch und das Ankommen in der Fremde eine Bağlama, die türkische Langhalslaute, die zugleich Saz genannt wird. Schnell konnte Ata mit seinem musikalischen Talent überzeugen, so auch sein großes Vorbild aus der Türkei, Aşık Mahzuni Şerif, den er bei einem Konzert in einem lokalen Verein traf und ihm vorspielen durfte. Şerif gab ihm den Rat mit auf den Weg, dass ein Aşık, ein Ozan (Liedermacher, Poet, Dichter) „die Problematik seiner Zeit in seine Werke einbringen sollte“.

Canani konstatiert: „Das hat er schon sehr gut gesagt. Ich finde das gilt aber für alle Kunstbereiche, ob Theater, Kino, Musik, alles ... die Künstler sind wahre Zeugen, Zeitzeugen.“

Kurze Zeit darauf zog die Familie nach Köln, weil der Vater dort eine neue Stelle als Schweißer fand. Als Teenager spielte Canani in den Wohnheimen der Arbeitsmigrant:innen und in Hochzeitskapellen. Angetrieben von den Arbeits- und Lebensbedingungen, die er damals beobachtete, den Geschichten, die er hörte, schrieb er als einer der ersten Einwanderer Lieder in deutscher Sprache mit anatolischen Klängen. Sein Song Deutsche Freunde, den er 1978 als 15-jähriger komponierte, erfreut sich auch deshalb aktueller Beliebtheit und wird gerne zitiert, weil dessen Inhalte nichts an Gültigkeit verloren haben:

„Und die Kinder dieser Menschen sind geteilt in zwei Welten. – Ich bin Ata und frage euch, wo wir jetzt hingehören?“

Ozan Ata Canani erzählt, dass seine Musik für die meisten Hörer:innen zu fremd gewesen sei. Für die Deutschen wegen der orientalischen Töne und für die Türk:innen wegen der Texte, weil sie die Sprache nicht verstanden. Ende der 70er schloss er sich als Mitglied von Die Kanaken dem im deutschen Exil lebenden türkischen Rockstar Cem Karaca an. Eine Karriere blieb dennoch vorerst aus. Seine Musik geriet in den darauffolgenden Jahrzehnten in Vergessenheit, bis 2013 ein Anruf von Imran Ayata kam, der mit Bülent Kullukcu inspiriert von den Musiksammlungen ihrer Eltern, private, inoffizielle Musikarchive durchforstete, um die Kompilation Songs of Gastarbeiter Vol.1 herauszubringen. Weil es keine Originalaufnahme von Deutsche Freunde gab, spielte Canani den Song im Studio neu ein. Ayata und Kullukcu leisteten mit dem Sampler wichtige Arbeit zur Sichtbarkeit von Künstler:innen, die von der sogenannten Mehrheitsgesellschaft in Almanya bis dato ignoriert worden waren. Mit millionenfach über alternative Distributionswege wie Gemüsehändler:innen und Exportläden verkauften Tonträgern ist das aus Köln betriebene Label Türküola bis heute das erfolgreichste Independent Plattenlabel der BRD – ein Fakt, der in der deutschen Musikgeschichtsschreibung lange vollkommen unbekannt war.

Bis zur Veröffentlichung seines Debütalbums musste Ata allerdings noch bis 2021 warten, insgesamt vergingen mehr als vierzig Jahre.

Seine neuen und alten Songs handeln vom Ankommen und vom Dazwischen der migrantischen Lebenserfahrung, von Ausgrenzung und Sehnsüchten nach Rückkehr der Elterngeneration in die türkische Heimat. Ebenso kritisiert er die politische Lage der Türkei und singt vom Wunsch nach deren Unabhängigkeit. Momentan wird er als Wiederentdeckung des Jahres gefeiert und bespielt im Rahmen seiner Warte mein Land, warte-Tour mit der Münchner Krautrock-Band Karaba die Bühnen des Landes.

Ozan Ata Cananis Werdegang wirft viele Fragen zu struktureller (Mis)repräsentation in der Medien- und Kulturlandschaft auf.

Seitdem es westliche Geschichtsschreibung gibt, werden Stimmen, die nicht die hegemonialen Machtstrukturen oder Interessen bedienen, bewusst ignoriert oder instrumentalisiert. Auch dafür ist seine Geschichte exemplarisch. Für Ata Canani ist dieses Jubiläumsjahr „eine zweite Chance“. Es sei für ihn wie ein „zweiter Frühling”, erzählt er. Er möchte endlich gehört werden und mit seiner Musik Menschen verbinden. Als musikalisches Zeitzeugnis schwingt in seinen Liedern trotz Systemkritik viel Optimismus mit. Ganz im Sinne der transformativen Kraft von Musik plädiert er für Menschlichkeit und eine Gesellschaft, die Platz für multiple Lebensrealitäten hat, und singt auch deshalb  „Vom Bosporus bis zum Rhein, scheint die Sonne überall … Versteht uns endlich, wir gehören hierher.“

 

Unsere Autorin: Franziska Anastasia Lentes, geb. 1989, ist als Bildredakteurin mit den Schwerpunkten Kunst und Kultur im Printjournalismus tätig und studiert im zweiten Jahr im Master-Programm Raumstrategien an der Kunsthochschule Berlin Weißensee. Hierbei beschäftigen sie vor allem nicht-eurozentrische, dekoloniale Diskurse aus dem Globalen Süden.

 

 

Veröffentlichung: 12.10.21