Vom Ende der Krinolinen-Diktatur
Über die Frechheit der Operette: Ein Gastbeitrag von Nick-Martin Sternitzke.
Es war alles nur ein Trick. Gern wäre sie einmal so richtig und von Herzen verliebt, gestand die junge Sissy, die noch bayerische Prinzessin war, ihrem Cousin, der noch nicht ihr Mann war. Aus dem Orchestergraben im rappelvollen Theater an der Wien schwappte zur Sissy-Premiere (1932) ein leiernder Ländler. Ein paar Takte später würde niemand mehr wissen, wohin Sissy plötzlich den Blick richtete. Doch in diesem Augenaufschlag, noch ehe das Orchester die Phrase hob, glitt Sissy-Darstellerin Paula Wessely einen halben Schritt zurück, als folgte sie einem Ziehen in der Luft. Dem Publikum hatte sie nun die Schulter gezeigt. Ihr Blick traf sich mit dem einer anderen Sängerin, die hinter der Kulisse wartete, wo der Boden nach Leim und kaltem Eisen roch. Wessely hob den Kopf und in dem Moment, in dem ihre Lippen sich zu einem Rund formten, sprang die fremde Stimme aus der Hinterbühne ein. Der Ton schien aus Wesselys Kehle zu kommen, gehörte ihr aber nicht. Sie hätte ihn gar nicht treffen können. Dafür reichten die Gesangsstunden, die sie nahm, nicht aus.
Sissy war eine perfekte Illusion und taktweise sogar außer Betrieb.
Grenzen hat die Operette schon immer lustvoll zerhackt und dabei nicht nur die Schranken von Stimmen und Körpern aufgesprengt. Prinz Orlofsky, der sich – und das mag seinem Stimmbruch geschuldet sein – durch seine Auftrittsnummer „chacun à son goût“ im zweiten Fledermaus-Akt (1874) gluckst, ist ein Mezzo- und kein Knabensopran, eine Frau, die einen Mann verkörpert. Die Operette spielt mit Geschlechtererwartungen, bestätigt sie am Ende oft in vorausgaloppierendem Gehorsam, unterläuft sie aber vorher nur allzu gerne.
Auf der L'île de Tulipatan (Die Insel Tulipian, 1868), die es nur im Operettenkosmos von Jacques Offenbach gibt, ist alles möglich, wie die Presse nach der Wiener Erstaufführung schreibt: „König Kaktus hat einen Sohn, der eine Tochter ist, und Minister Fikus eine Tochter, die ein Sohn ist.“ – Mit Selbstbestimmungsgesetz hat das nichts zu tun, das sind nur die Früchte unkonventioneller Erziehung: Um der Musterung zu entgehen (die die Gleichberechtigung potenzieller Soldatinnen und Soldaten nicht anerkennt), wird der Sohn Hermosa als Mädchen erzogen. Die Tochter Alexis dagegen wächst als Mann auf, um die Lücke eines männlichen Thronfolgers zu füllen. Die Verwirrung gipfelt, als Hermosa erfährt, dass Alexis eigentlich eine Frau ist. Hermosa, selbst als Mädchen erzogen und sich so verstehend, sieht darin keinen Hinderungsgrund – auch nicht für eine Hochzeit zweier Frauen. Hermosas Vater reagiert, kurz vor dem Nervenzusammenbruch stehend und in adäquater Genre-Manier, mit einem erregten Jodler. Die Hochzeit kann nicht aufgehalten werden. Weil es aber weder auf der Insel Tulipatan noch im Paris oder Wien des 19. Jahrhunderts eine amtliche Bezeichnung für die gleichgeschlechtliche Ehe gab, legte man auf der Bühne die biologischen Geschlechter von Hermosa und Alexis offen. Bei aller Subversion darf das Paar also endlich in den Hafen der Heteronormativität einlaufen.
Darf sie*er so?
Thronfolger Alexis, ausgestattet mit „männlichen“ Hosen und „weiblichem“ Koloratursopran, ist die Blaupause für einen Trend, der in der Operette kommerziell erfolgreiche Schule machen wird: die Darstellerin – oh Schreck! – in Hosen. Darf sie so? Ja. Zumindest auf der Bühne. Die Frau wird entkleidet: Die Krinoline, die den weiblichen Unterleib wie einen Hochsicherheitstrakt aus Weidenruten, Stahl und Seide verhüllte und wie einen blinden Fleck zensierte, fällt, und das Verborgene zeigt sich: Beine. Im Theater an der Wien, jenem Operettentempel der Donaumonarchie, wird Begehren verkauft. Hier: der visuelle Appetizer, im dahinterliegenden Bordell: gleich der Körper. Die neu verpackte (oder: entpackte) Weiblichkeit schmeckt dem männlichen und zahlungskräftigen Teil des Publikums.
Indem die Frau in Hosen sich dem Auge des Mannes ausliefert, erobert sie sich aber auch ein Stück Autonomie.
Das begaffte Objekt inszeniert sich auf der Operettenbühne als Subjekt, in Strauß’ erster Operette Indigo und die vierzig Räuber (1871) ganz besonders. Marie Geistinger, Theaterdirektorin und Bühnen-Star, spielt und singt Fantasca, die von König Indigo in seinem Harem gefangen gehalten wird. Ihrem Fluchtplan kommt dabei ein Sachverhalt sehr gelegen: Indigo fürchtet eine Räuberbande, die das Reich bedroht, bei einem Schiffsunglück allerdings ertrunken ist, bevor sie hätte Schaden anrichten können. Die glückliche Unglücksmeldung erreicht den König jedoch nicht. Also macht sich Fantasca die royalen Ängste vor Raub und Überfall zunutze und rehabilitiert das alte Schreckgespenst: Mit den übrigen Haremsdamen schlüpft sie in die zerrissenen Kleider der toten Seeräuber. – Schon der bloße Anblick schlägt die Truppen des Königs in die Flucht, Fantasca segelt mit ihrem Geliebten in die Freiheit und nimmt das Haremsgefolge gleich mit. Einen kolossaleren Sieg über sexuelle Ausbeutung und patriarchale Machthaberei hat die Operettenbühne selten gesehen. Denn nichts fürchtete der Mann dem Anschein nach so sehr wie eine Frau in Hosen.
Die Aufhebung der Norm auf der Bühne ist ein dynamisches Mittel für Veränderung, die in der Wirklichkeit schleppend oder gar nicht vorangeht.
Nun, fast einhundert Jahre nach Paula Wesselys Sissy im Theater an der Wien ist der Trick ein anderer: In Bremen singt sich die Kaiserin mit Bariton-Timbre – nicht mit geliehener Hinterbühnenstimme – aus ihrer eigenen verkitschten Rezeptionsgeschichte. Auch das ist und war die Frechheit der Operette.
Unser Autor:
Nick-Martin Sternitzke studierte Musiktheaterwissenschaft in Bayreuth und Musikjournalismus in Karlsruhe. Heute arbeitet er als Autor für SWR Kultur, WDR 3 und hr2-kultur, moderiert Konzert- und Gesprächsformate und lehrt Musikkritik und populäres Musiktheater an den Universitäten in Hildesheim und Bayreuth. Er ist Co-Host des SWR-Podcasts Score Snacks. Unter dem Hashtag #poperetta erklärt er in den sozialen Medien, was eine „lustige Witwe“ mit Fritzi Massary „naughty“ machte, wie Leonard Bernstein einen West Side Story-Hit aus dem Fundus der Klassik zusammenklaubte und warum Lady Gaga Lehár singen sollte.
Veröffentlicht am 26. November 2025.