Vom Glück und Schmerz zu trauern

Über die neue Lesereihe Abschied nehmen, Eltern als Portalfiguren des Lebens und Brücke zur Welt, aus der man stammt. Ein Text von Dramaturg Stefan Bläske.

Ganz gleich, wie nah man einander war oder wie weit man sich (nicht nur geographisch) voneinander wegentwickelt hat: Der Tod der Menschen, denen man mindestens das Leben und das genetische Material, wenn nicht auch Erziehung und Prägung oder sogar Liebe und Grundvertrauen verdankt, markiert einen tiefen, oft existentiellen Einschnitt. „Ich werde ihre Stimme nie mehr hören“, schreibt Literaturnobelpreisträgerin Annie Ernaux nach dem Tod ihrer Mutter. „Sie, ihre Wor­te, ihre Hände, ihre Gesten, ihr Gang und ihre Art zu lachen waren es, die die Frau, die ich heute bin, mit dem Kind, das ich gewesen bin, verbunden haben. Ich habe die letzte Brücke zu der Welt, aus der ich stamme, verloren.“

The Circle of Life

Im Grunde ist der Tod der Eltern ja das Normalste, Natürlichste der Welt, „the circle of life“. Wenn er nicht erlebt wird, wenn Kinder vor den Eltern sterben, ist das noch viel tragischer. Aber Whataboutism hilft auch hier nicht. Und so sind intime und persönliche, traurige und kraftvolle Bücher entstanden, wenn Autor:innen nach dem Tod ihrer Eltern das Privileg hatten, der Trauer Raum zu geben, erinnernd und verarbeitend gegen den Schmerz und das Vergessen anschreibend, mit teils autobiographischen, teils autofiktionalen Texten.

Das Bedürfnis zu schrei(b)en

„Es ist inzwischen fast sieben Wochen her, seit meine Mutter tot ist,“ schreibt Peter Handke, „und ich möchte mich an die Arbeit machen, bevor das Bedürfnis, über sie zu schreiben, das bei der Beerdigung so stark war, sich in die stumpfsinnige Sprachlosigkeit zurückverwandelt, mit der ich auf die Nachricht von dem Selbstmord reagierte.“ Und während die Autor:innen schreiben, reflektieren sie häufig auch ihr Tun und Sein: Wie sehr geht es um die verlorene Person oder um die eigene? Wie weit haben sich die Akademiker:innen ihrer Herkunft entfremdet, was ist Erinnerung, was (Re)Konstruktion, Nachträglichkeit oder Maskenspiel? Wie sehr ist das autofiktionale Schreiben ein Prozess „der Selbstheilung, des Sich-selbst-Wiederherstellens“ (Paul de Man)?

Wie weiterleben nach dem Tod der Eltern, den „Portalfiguren des Lebens“?

„Die Unruhe, die jetzt begonnen hatte, ließ sich nicht mehr eindämmen,“ schreibt Peter Weiss. „Nach Wochen und Monaten langsamer Veränderungen, nach Rückfällen in Schwäche und Mutlosigkeit, nahm ich Abschied von den Eltern.“ Autor:innen beschreiben wohltuende Rituale, die Einsamkeit der Totenwache, den Umgang mit dem Körper, den ablenkenden Wahnsinn der Bürokratie. Was den einen hilft, ist andern eine Qual. „Das Begräbnisritual entpersönlichte sie endgültig,“ schreibt Handke. „In den religiösen Formeln brauchte nur ihr Name eingesetzt zu werden. ‚Unsere Mitschwester …‘“

Archäologie des Verlorengegangen

Vor allem aber handeln die Bücher vom Leben der Eltern. Wie wurden sie die, die sie waren, welche Kindheit haben sie erlebt, in welchem Milieu? So entblättert sich auch ein Panorama des 20. Jahrhunderts und eine Archäologie untergegangener Welten, Traditionen, Handgriffe. Anschaulich werden Armut, bäuerliches Leben, Arbeitermilieu – mal nostalgisch, mal als Elendsbeschreibungen. All die Handwerkstätigkeiten, Werkzeuge und Utensilien vom Waschzuber bis zur Mangel, eine Technikgeschichte: das erste Radio, der erste Kühlschrank. Und immer wieder: Frauen, die erst von ihren (trinkenden) Vätern, dann (trinkenden) Männern unterdrückt und geschlagen, der Freiheit beraubt werden. Ihr Leben als schmerzhafter, langer Prozess der Emanzipation.

Politik der Fürsorge

Immer wieder der existentielle Umschlag: Die einst Erziehenden werden zu Pflegefällen. Immer wieder sind es die Frauen, die sich kümmern: um Kinder, Mann und Eltern. Jüngere Autor:innen wie Maren Wurster verarbeiten auch Aktuelles: die Corona-Krise etwa und die unmenschliche Regel, die den Besuch der sterbenden Eltern untersagte. Die Bücher sind subtil politisch nicht nur in der Beschreibung der Situation in Pflegeheimen und Krankenhäusern. Vor allem sind sie intim und persönlich. Wie sind die Eltern miteinander umgegangen? Wie harmonisch oder dissonant waren die Beziehungen, wenn etwa eine Partei häuslich daheim bleiben wollte, „wissen, wo man hingehört“, wie Arno Geigers Vater, während es seine Mutter nach Neuem dürstete, nach Ausflügen und Anregungen? Und wie war der eigene Umgang mit den ‚Eltis‘, wie nachsichtig war man ihnen gegenüber nach der Feststellung, dass Eltern auch nur Menschen sind und angesichts der beliebt-bequemen Haltung, sich als Opfer zu sehen, Verantwortung abzuwälzen? „Man empfindet ja meistens einen Mangel oder ein Übermaß an elterlicher Fürsorge.“ (Geiger)

Vermutlich ist die zentrale Frage ohnehin die, ob man das Leben vor dem Tod, die gemeinsame Zeit, gut genug genutzt hat?

„In der Zeit ohne dich, Papa, hat es gedauert, bis ich verstanden habe, wie Mama und ich zusammen sein können, dass wir nichts machen müssen, nicht spazieren, nichts erinnern. Einfach nur beieinandersitzen“, schreibt Maren Wurster. Peter Weiss indes erinnert das Beisammensein in der Familie „im Zeichen der Fremdheit. Aus dieser Zeit würgt sich ein Schrei aus mir heraus, warum haben wir diese Tage und Jahre vertan, lebendige Menschen unterm gleichen Dach, ohne einander ansprechen und hören zu können.“

Die Lesereihe handelt also mehr noch vom Leben als vom Sterben.

Sie wendet sich an jene, die die Trauer schon gelebt haben ebenso wie die, denen der Abschied von den Eltern – ein seltsames Wort, aber ja, hoffentlich – noch bevorsteht. Ohnehin sollte das Ende nicht nur dieses Textes ein hoffnungsvolles sein. Mit Chimamanda Ngozi Adichie gesprochen: „Trauer ist das Glück, geliebt zu haben.“

 


LESUNGEN

20.09.2023: Annie Ernaux: Eine Frau
18.10.2023: Peter Handke: Wunschloses Unglück
13.12.2023: Maren Wurster: Papa stirbt, Mama auch