Von Jack the Ripper bis Wozzeck: Einer für das Ungeheure

Claudio Otelli ist Jakob Lenz. Ein Porträt von Brigitte Heusinger.

Claudio Otelli ist Jakob Lenz, der Protagonist in Wolfgang Rihms 1977/78 geschriebener, gleichnamiger Oper und in der Inszenierung von Marco Štorman, der ihn in ein anatomisches Theater sperrt – in einen runden Holzbau, der mehrgeschossig auf der Großen Bühne steht und in dem ca. 280 Zuschauer*innen Platz haben. Hier werden keine Leichen, sondern die Seele von Jakob Michael Reinhold Lenz seziert, des Dichters, den wir heute vor allem aus der berühmten Erzählung von Georg Büchner kennen. Lenz flüchtet ins Gebirge, in die Vogesen zu dem Pfarrer Oberlin. Doch seine geistige Zerrüttung nimmt während des dreiwöchigen Aufenthaltes ungehemmt ihren Lauf, sein Wahn bringt ihn und seine Umgebung an ihre Grenzen. 

Es ist, als wolle er sich die Figur als ein weißes Blatt erhalten.

Ja, Otelli ist Jakob Lenz und das voll und ganz, aber beschreiben möchte er ihn nicht, diesen Charakter, den er in den nächsten Monaten verkörpern wird. Claudio Otelli weigert sich standhaft, Adjektive in den Mund zu nehmen und der Figur Lenz Eigenschaften, Gefühle, Verhaltensweisen zuzuordnen. Es ist, als wolle er sich jetzt zu Probenbeginn, wo wir dieses Interview führen, die Figur als ein weißes Blatt erhalten und sie nicht mit vorgefassten Urteilen überschreiben: „Ich will mich nicht selbst konditionieren.“ Er beantwortet das Was mit dem Wie: Nicht wer bin ich, werde ich auf der Bühne sein, sondern wie nähere ich mich der Figur?

Seine besten Arbeiten macht der „nachschaffende“ Otelli.

Und wie nähert er sich? Ja, da ist als erstes die Vorbereitung. „Ich versuche auf Punkt und Komma das zu respektieren, was Komponist und Librettist hinschreiben und den Text und die Musik nachzuvollziehen.“ Das ist der eine Otelli, der Sänger mit dem konservativen Arbeitsethos, der immer akribisch vorbereitet ist, das Werk, den Hintergrund kennt und für Dramaturg*innen ein Gesprächspartner auf Augenhöhe ist. Doch seine besten Arbeiten macht der „nachschaffende“ Otelli, der Stück und Autor gerecht werden möchte, mit unkonventionellen Regisseuren wie beispielsweise Nicolas Brieger, Martin Kušej, David Pountny, Calixto Bieito, Benedikt von Peter oder auch Marco Štorman und Paul-Georg Dittrich.

Das Maßvolle ist seine Sache nicht.

Liegt es daran, dass sich sein hoch emotionales, energetisches Kraftzentrum immer behauptet, dass er nie routiniert auf die Bühne geht? Braucht er ein kraftvolles Konzept, damit seine darstellerische Kraft unbändig sein kann? Denn das Maßvolle ist seine Sache nicht. Und hier ist eben der andere Otelli, der gar nicht denkt, sondern der tut und das aus seinem Instinkt heraus: „Wenn also das Handwerkliche erledigt ist, werden alle Teile, die zusammengefügt sind, wieder zerbrochen. Ich mache mich leer und schaue, was die Geschichte mit mir macht, was aus den Untiefen meines Unbewussten herauskommt.“ Denn alle Geschichten seien in uns, und auch die Gefühle, die ein Wozzeck vor dem Mord an seiner geliebten Marie habe, würden wir kennen, selbst wenn wir nicht zu einem Mord fähig wären. „Ich bin ein Mensch, der sich nicht davor scheut, den Ungeheuern, die in uns schlummern, Platz zu geben oder sich – im übertragenen Sinne – auszuziehen“, sagt er, und jetzt weiß man, warum die Theater, sei es in Frankfurt, Luzern, Stuttgart, Antwerpen, Basel, bei der Ruhrtriennale oder eben in Bremen ihn für spezielle Charaktere buchen, für Außenseiter, Mörder, Psychopathen, machtgeile Potentaten, für Scarpia, Wozzeck, Dr. Schön/Jack the Ripper oder den Fliegenden Holländer.

„Es gibt eine Handvoll Menschen, bei denen ich mich sicher fühle.“

Aber Claudio Otelli weiß auch, dass man einen Preis dafür zahle, sich „nackt und verletzlich zu machen“, und dass es ein Drumherum geben müsse, das behutsam mit diesem Geschenk umgehe. Ich mutmaße, dass er sich in Bremen sicher fühle. Seine Antwort ist ein langes Schweigen. Nachfrage meinerseits: „Einigermaßen sicher?“ Seine sehr vorsichtige Antwort: „Es gibt eine Handvoll Menschen, bei denen ich mich sicher fühle.“ Die Regisseure Marco Štorman und Paul-Georg Dittrich gehören dazu: „Beglückende Gegenüber, bei denen ich weiß, dass wir ineinander geborgen sind.“ Und jetzt fängt Claudio Otelli an, dann doch aus seiner aktuellen Rolle heraus zu argumentieren: „Mein Empfinden passt zur Rolle.“ Jakob Lenz sei ein Außenseiter, der die Sehnsucht hat, einen Menschen zu finden, dem er sich anvertrauen kann. „Ich glaube, dass wir alle multiple Persönlichkeiten sind. Da gibt es einen Teil, der sehr, sehr selbstsicher ist und der sich gut zu schützen weiß, auf der anderen Seite ist da ein verletzlicher Teil, den man auch in den Arm nehmen muss.“ Und Lenz sei ein Mensch, der um Verständnis ringe, und in diesem Ringen um Nähe, hundertmal das gleiche sage und das immer nachdrücklicher, und sich dann in immer kompliziertere und kafkaeskere Konstruktionen versteige.

„Jede Gesellschaft braucht Außenseiter.“

„Lenz möchte die Menschen, denen er begegnet, in seine Welt holen, in gewisser Weise bin ich ja auch so ein Mensch“. Wir sprechen weiter über die gesellschaftliche Funktion von Außenseitern. Er: „Jede Gesellschaft braucht Außenseiter, Menschen, die nicht der gerade herrschenden Norm entsprechen, um sich von ihnen abzugrenzen“. Ich füge hinzu: „Weil sie gerne etwas tun, dass andere sich verkneifen.“ Er: „Wie bei Falstaff, den die anständigen Bürger*innen von Windsor entsetzlich malträtieren, weil er es wagt, seine Lust auf Frauen, den Alkohol und die Völlerei ungehemmt auszuleben.“ Ich: „Und doch wird ein kleiner Teil des unerwünschten Verhaltens in unser Leben integriert und toleriert, sei es in Auszeiten wie dem Karneval oder unter Alkoholeinfluss,“ … Er: … „wo uns eine verringerte Schuldfähigkeit zugesprochen wird“. Ich: „Wie früher auch im Anschluss an Theatervorstellungen,“ … Er: … „wenn Schauspieler*innen und Sänger*innen noch voll in ihrer Rolle gefangen waren und eine gewisse Zeit danach strafrechtlich nicht für ihre (Un-)taten haftbar gemacht werden konnten.“

„Ich nehme die Rolle als wäre sie ein Buch, dass ich zurück in die Bibliothek stelle.“

Das erinnert mich an die ersten Begegnungen, die ich mit Claudio Otelli hatte, im Theater Basel so um das Jahr 2009 herum. Wir kannten uns noch nicht so gut, aber gratulieren musste und wollte ich natürlich, nach den großen Erfolgen, die er auch dort u.a. in Janáčeks Ein Totenhaus und Bergs Lulu feierte. Aber ich traute mich kaum, denn man spürte deutlich, dass es ihm eigentlich nicht passte, dieses notwendige und doch auch schöne Ritual. Ich spreche ihn darauf an. Seine Antwort: „Wenn der Prozess anfängt, beginne ich mit dem Teil, der da aus mir rauskommt, zu leben. Die Geschichte fängt ja nicht an, wenn sich der Vorhang hebt und hört nicht auf, wenn er sich senkt.“ Ich frage nach: „Wann bist du wieder du selbst, und wie gestaltet sich die Übergangsphase?“ „Ich bin immer ich selbst. Und erst, wenn die letzte Vorstellung gelaufen ist, steige ich langsam aus. Ich nehme die Rolle als wäre sie ein Buch, dass ich zurück in die Bibliothek stelle. Und dann verlasse ich den Raum und schließe die Tür, aber ich weiß, dass das Buch noch dort ruht und greifbar ist.“

 „Sie ist pur, sie ist nicht konditionierbar, Liebe ist ein Geschenk.“

Erwähnt wurde er, aber richtig gesprochen haben wir noch nicht über Falstaff, den anderen Außenseiter dieser Saison, den Claudio Otelli verkörpern wird, den liebenswerten Ritter Sir John Falstaff, der völlig aus der Zeit gefallen ist. Ich frage ihn nach seinem Lieblingssatz in der Oper. Die Antwort kommt spontan. „Ich liebe, und es ist nicht meine Schuld“. Ich: „Warum?“ Er: „Weil es die pure Emotion ist. Liebe hat nie etwas mit Schuld zu tun. Sie ist pur, sie ist nicht konditionierbar, Liebe ist ein Geschenk.“ Auch hier weigert er sich im anschließenden Gespräch, seinen Falstaff von außen anzuschauen, er möchte ihn von innen fühlen. Nicht nur seine verbotenen Seiten, die versteckten, sondern auch die liebenswerten. Und so steht am Ende ein tröstliches Schlusswort: „In uns schlummern ja nicht nur Ungeheuer, in uns schlummern ja auch Engel, wunderschöne Wesen.“