„Vulgär, schlüpfrig und zutiefst libertär“

Die Dramaturgin Brigitte Heusinger anlässlich der Premiere von „Orpheus in der Unterwelt“ über den Wandel der Operette.

Sie gilt gerne als angestaubt, die Operette mit Ohrwurmqualität und Walzer im Dreivierteltakt – als harmloses Vergnügen, sentimental und voller Schmelz: „Lippen schweigen, 's flüstern Geigen.“ Ein Abgesang auf eine längst vergangene, mit Zuckerguss überzogene Zeit, die – ja – auch ihre Krisen und Schrecknisse hatte. Aber schließlich: „Glücklich ist, wer vergisst, was nicht zu ändern ist.“ Das war nicht immer so. Als sich Jacques Offenbach Mitte des 19. Jahrhunderts aufmachte, ein neues Genre zu kreieren, konnte niemand voraussehen, dass die Operette in den Ruf einer gemütsberuhigenden Angelegenheit kommen würde.

Ganz im Gegenteil, seine Opéras bouffes waren albern, grotesk und auf hinterfotzig verdrehte Art politisch. Vor allem waren sie vulgär, schlüpfrig und zutiefst libertär.

Die Darstellerinnen waren die It-Girls des Kaiserreichs unter Napoleon III. Sie zeigten sich nackt auf der Bühne, untermalten ihre Darbietungen gerne mit anzüglichen Gesten und führten auch außerhalb des Theaters ein freizügiges Liebesleben, das die Klatschspalten der Zeitungen füllte. Während junge Männer häufig – unter Entbehrungen – von ihren Familien unterstützt wurden, hofften junge Frauen, die der Enge der Provinz oder ihrer Existenz entgehen wollten, auf Engagements als Schauspielerin oder Tänzerin. Die Chancen der oft erst 16 oder 17 Jahre alten Mädchen erhöhten sich durch sexuelle Dienstleistungen, sei es als Gespielin von Intendanten, Regisseuren oder Tanzlehrern. Oder sie wurden Mätressen einflussreicher, vermögender Lebemänner, die in den Operettenhäusern mit den Damen der Halbwelt anbandelten, weil sie nach erotischer, aber auch nach intellektueller Stimulation suchten. Diese Gönner hatten exklusiven Zugang zu den Räumen der Damen, vor allem zum foyer de la danse.

Da eine große Nachfrage herrschte, mussten die Herren sich ihre exklusiven Vergnügungen durch Zuwendungen an das Theater erwerben.

Soweit – recht prekär – sah es hinter den Kulissen aus. Doch wie war die Rolle der Frau auf Offenbachs Brettern? Und wie lebte es sich mit Orpheus, dem Gegenüber aus der Sagenwelt? Mythos steht drauf, doch wieviel Mythos ist drin in Offenbachs Operette? Kein strahlender Halbgott, keine abgöttisch geliebte Muse eröffnen das Werk, sondern ein bürgerliches Paar im profanen Ehestreit. Offenbach und seine Librettisten führen den sagenhaften Plot ad absurdum: Orpheus ist kein strahlender Sänger, er ist ein leidlich erfolgreicher Musikschullehrer. Mit reichlich Amouren. Auch Eurydike hält die eheliche Treue nicht hoch. Sie pflegt ein Verhältnis mit Aristeus, der sich später als Pluto, als Herr der Unterwelt, erweisen wird. Für diese ausweglos erscheinende Situation einer Ehe ohne Zuneigung und Scheidungsperspektive, dafür aber mit Nebenbuhlern, schlägt Eurydike beherzt selbstbewusst folgende Lösung vor: „Ich liebe einen anderen als dich, du liebst eine andere als mich, lass uns getrennter Wege gehen.“ Das aus dem Mund einer Frau in der Mitte des 19. Jahrhunderts. Zwei Jahre zuvor hatte Madame Bovarys Ehebruch noch für einen handfesten Skandal gesorgt und ihren Urheber Gustave Flaubert auf die Anklagebank des Pariser Kriminalgerichts gebracht. Eurydike jedenfalls blieb Protest weitgehend erspart. Dies mag an der Publikumsstruktur von Offenbachs Privattheater Bouffe-Parisien gelegen haben. Es war eben eine geschlossene Gesellschaft, die sich im „singenden und tanzenden Edelbordell“ (Kevin Clarke) traf und einen Schulterschluss suchte gegen den gemeinsamen Feind: das Spießbürgertum.

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wandelte sich die Operette vom Unterhaltungsspektakel der oberen Zehntausend zum modernen Massenmedium.

Jazz- und Marschrhythmen lösten den Wiener Walzer ab, Berlin wurde von vielen Komponisten als Uraufführungsort entdeckt. Die Operette wurde braver, um einem breiteren Publikum gerecht zu werden, ihre grundsätzlich satirisch-politische Ausrichtung und ihr erotischer Anspielungsreichtum blieben jedoch bestehen. Selbstbewusst und verführerisch sang die Berliner Operettendiva Fritzi Massary noch 1932 „Warum soll eine Frau kein Verhältnis haben?“ in der Operette von Oscar Straus mit dem bezeichnenden Titel: Eine Frau, die weiß, was sie will. Erst im Nationalsozialismus wich die freche Seite der Operette ganz jener biederen Unterhaltungsgemütlichkeit, die der Gattung langsam aber sicher den Garaus machte. Jüdische Künstler:innen wurden vertrieben, ihre Stücke von den Spielplänen verbannt. Die ursprünglich internationale Operette, die sich in den zwanziger Jahren mehr und mehr am US-amerikanischen Revue-Theater orientiert hatte, wandelte sich zum nationalistischen Singspiel, an die Stelle von Groteske und Erotik traten Innigkeit, Sauberkeit, Heimatverbundenheit. Und auch die Musik von Jacques Offenbach – dem Juden, Franzosen und Komponisten frivoler, eben „undeutscher“ Musik – wurde 1933 in Deutschland abgeschafft.