Warum eigentlich … Arbeiterkind?
Janna Voigt, hauptamtliche Koordinatorin von „ArbeiterKind“ für Niedersachsen und Bremen, im Gespräch mit Schauspieldramaturg Stefan Bläske über Bildungschancen, Qualifikation und Empowerment.
„Ich will ein anderes Leben als das auf Knien“, sagt das Mädchen zu ihrer Mutter, die als Reinigungskraft arbeitet. Wir spielen das berührende und zugleich kämpferische Stück Mach es gut von Sylvia Sobottka nun wieder und freuen uns über ein Podium und den Austausch mit euch von „ArbeiterKind.de“. Zunächst: Was seid und macht ihr?
Janna Voigt: Wir sind eine gemeinnützige Organisation zur Förderung des Hochschulstudiums von Menschen aus nichtakademischen Familien. Seit knapp 16 Jahren ermutigen wir Schülerinnen und Schüler aus Familien ohne Hochschulerfahrung dazu, als erste in ihrer Familie zu studieren.
Warum ist das nötig?
Janna Voigt: Von 100 Menschen aus akademischen Elternhäusern studieren 77. Von 100 Menschen aus Elternhäusern ohne akademische Tradition sind es 23. Unser derzeitiges mangelhaftes Bildungssystem schafft es leider nicht, dass die soziale Herkunft keinen Einfluss auf die spätere Studien- und Berufswahl (junger) Menschen hat.
Was tut ihr für mehr Bildungsgerechtigkeit?
Janna Voigt: 6.000 Ehrenamtliche engagieren sich bundesweit in 80 lokalen ArbeiterKind.de-Gruppen, um Schülerinnen und Schüler zu informieren und sie auf ihrem Weg vom Studieneinstieg bis zum erfolgreichen Studienabschluss und Berufseinstieg zu unterstützen. Wir bieten Mentoring an, teilen unser Erfahrungswissen und bieten gleichzeitig eine Community, in der wir uns gegenseitig unterstützen. Die Ehrenamtlichen kennen Unsicherheiten, finanzielle Schwierigkeiten, mögliche Hürden und wollen frühzeitig – also noch während der Schulzeit oder in den ersten Semestern – diese Themen ansprechen und Orientierung anbieten. Bafög als Studienfinanzierung kennen viele, aber viele kennen nicht die Möglichkeit, wie die Bedingungen sind, um ein Stipendium zu erhalten. Dafür werben wir als ArbeiterKind ganz offensiv.
Seit den sogenannten Bildungsromanen dominieren Erzählungen des Stolzes, nur ein bisschen mit Entfremdung oder Scham vermischt: „Er/sie hat studiert!“ oder „Unser Kind hat es geschafft“. Heute scheint die Debatte anders?
Janna Voigt: Viele sagen: „Ich bin kein Arbeiterkind – aber möchte als erste in der Familie studieren.“ Der einfache Kontrast „Arbeiter“ versus „Akademiker“ ist nicht mehr ganz zeitgemäß. Die Gesellschaft ist viel diverser geworden. Und „studiert zu haben“ reicht auch nicht mehr aus, um gute Jobs zu erhalten. Vor dem Mauerfall 1989 gab es auch ganz unterschiedliche Berufs- und Bildungswege in den Familien in Ost und West. Und Menschen mit Migrationshintergrund können auch Eltern mit Universitätsabschluss und Promotion haben.
Brauchen wir wirklich mehr Akademiker:innen, während Handwerker:innen fehlen und studierte Leute „Kunst“ oder „irgendwas mit Medien“ machen wollen? Müsste man nicht eher Handwerk, Pflege und all die wichtigen Berufe aufwerten in Bezahlung und Image?
Janna Voigt: ArbeiterKind geht es in erster Linie darum, individuelle berufliche Wünsche zu unterstützen. Um Arzt/Ärztin oder Rechtsanwalt/Rechtsanwältin oder Lehrer/Lehrerin zu werden, ist nun mal ein Studium erforderlich. Gerade wir mit unseren familiären Hintergründen, in denen Eltern nicht studiert haben, schätzen das Handwerk, die Pflegetätigkeit, die Tätigkeiten im Handel und im Gewerbe auch als besonders wichtig ein. Eine gesellschaftliche Aufwertung und eine adäquate höhere Bezahlung sind erforderlich, das ist gar keine Frage. Individuelle Wünsche unterstützen, heißt auch, Akademiker-Kinder sollen Tätigkeiten im Handwerk und der Pflege wählen können und nicht von ihren Eltern quasi verpflichtet werden, zu studieren.
Bildung kann auch Selbstzweck sein, nicht immer nur Berufsausbildung.
Janna Voigt: Es ist gut, künftig in vielen Bereichen „Fertigkeiten und Fähigkeiten“ zu entwickeln, entweder für private oder berufliche Aufgaben. Weil überall Fachkräfte „knapp“ sein werden. Wir möchten, dass alle jungen Menschen eine gut informierte Entscheidung treffen können, was sie nach der Schule machen möchten. Es geht ja auch um das Recht auf Bildung, auf freie Berufswahl und die freie Entfaltung der Persönlichkeit.
Inwiefern hat Bildungs- und damit Chancenungerechtigkeit noch immer auch mit Klassismus, Sexismus und Rassismus zu tun?
Janna Voigt: Kinder aus wesentlich weniger privilegierten Elternhäusern brauchen viel mehr Eigeninitiative, Ausdauer, Leistungswillen, Unterstützung und oft auch Abgrenzung zu der eigenen Familie, um ihren Lebensweg über ein Studium gehen zu können. Gezielte Anerkennung und Förderung der Diversität, auch hinsichtlich der sozialen Herkunft, müssen stärker bei der Auswahl von Stipendien, Ausbildungs- und Berufschancen berücksichtigt werden. Die „knapper“ werdenden Fachkräfte könnten künftig dazu führen, dass in allen beruflichen Sparten die „Wertschätzung“ steigen wird. Denn die Gesellschaft ist aufgrund der demographischen Entwicklung auf jede und jeden in der Zukunft angewiesen. Zur Diversität zählt natürlich nicht nur die soziale Herkunft, sondern auch viele weitere Merkmale, durch die strukturelle Benachteiligungen entstehen, wie Hautfarbe und Geschlecht. In unserer Community zeigt sich, dass Menschen, die von Mehrfachdiskriminierung betroffen sind, es nochmal um einiges schwieriger haben, eine freie Wahl des Bildungsweges zu treffen. Beispielsweise wenn Studierende mit einem ausländisch gelesenen Namen eine Wohnung suchen oder studierende weiblich gelesene Personen in den MINT-Fächern.
Mehr Informationen unter www.arbeiterkind.de
Podium am 31. Januar 2024 um 21 Uhr mit Tina Keserović, Sylvia Sobottka und Janna Voigt, Moderation: Stefan Bläske
Veröffentlicht am 18. Januar 2024