Warum eigentlich ... Brecht und Brandbeschleuniger?
Robert Misiks neues Buch „Das große Beginnergefühl“ zitiert Brechts Beschreibung der Moderne. Mit Schauspieldramaturg Stefan Bläske spricht Misik über Aufbruch und Stockung, Revolution und das Säurebad der Subversion.
Stefan Bläske: Dein Buch handelt von der Moderne und konkret der Kunst: einer „Schrittmacherin von Emanzipation und Befreiung“?
Robert Misik: Die Kunst der Moderne revolutionierte Formensprachen, Sprachformen, Wahrnehmungsformen, eröffnete dem Sehen und auch dem Empfinden neue Kontinente. Sie kritisierte damit unentwegt frühere Formensprachen, und sehr oft auch explizit die Gesellschaften mit ihren überkommenen Konventionen, den modrigen Geldsäcken oder die Herrschaft von Kommerz und barer Zahlung und die damit entstehende neureiche Elite. Sie zieht den Teppich weg und enthüllt den schwankenden Boden, auf dem alles steht. Sie war, und hier verlasse ich das Perfekt, sie ist auch, der Seismograph, der das Erdbeben nicht nur misst, sondern auch mit verursacht. Und Kunst, revolutionäre Ideen in Politik und Geisteswelt sowie der technologische und sonstige „Fortschritt“ wirken seit mindestens 200 Jahren in Feedbackschleifen aufeinander ein.
Die Kunst sei „Brandbeschleuniger“ und solle die „Fließgeschwindigkeit“ erhöhen. Braucht es das auch heute, derweil sich viele eher nach Abkühlung, Ruhe, Entschleunigung zu sehnen scheinen?
Robert Misik: Ich würde nicht sagen, dass wir heute so viel Beschleunigung haben, dass man sich dabei nach Entschleunigung sehnt. Für einige Aspekte unseres Lebens und Alltags trifft das vielleicht zu, zugleich haben wir eine Ära der eher depressiven Stockung, des Endes und der Frustration jedes utopischen Bewusstseins, ja, jedes futurologischen Zeitgefühls. Paul Virilio hat das Bonmot vom rasenden Stillstand geprägt, das ist doch eher das Zeitempfinden. Und das ist kein schönes Zeitempfinden.
Du zitierst John Berger, für den die Moderne „die Kunst von morgen im Gegensatz zu den konservativen Geschmäckern von heute“ ist. Sind moderne Künstler:innen automatisch links?
Robert Misik: Nö, das sind sie keineswegs. Und außerdem sollten wir uns hüten, an die Kunst zu direkte politische Ansprüche zu stellen. Ein literarischer Text ist eben kein Leitartikel, beispielsweise. Aber das Konventionen-Zertrümmern, die Irritation durch neue Schreibweisen, die Störung konformistischer Sprache oder die Abkehr vom Figuralen, die Entwicklung neuer Ästhetiken, das war ja immer auch ein Umsturz. Alleine die Ausweitung dessen, was als Kunst akzeptiert ist, ist ein politischer Akt. Diese ästhetischen Umstürze waren übrigens über weite Phasen der Geschichte auch mit erbittertem konservativem Widerstand konfrontiert. Das hat viele Künstler der Moderne und politische Revolutionäre alleine aus diesem Grund nicht selten in ein gemeinsames Lager gebracht, weil sie die gleichen Feinde hatten. Natürlich gab es auch Künstler, die radikal Rechts waren, und ganze künstlerische Strömungen, man denke an Celine, Teile der Futuristen, den George-Kreis in Deutschland, Ernst Jünger, oder auch den jungen Thomas Mann, den der „Betrachtungen eines Unpolitischen“. Aber sehr oft waren auch diese Strömungen, wenn sie ästhetisch innovativ waren, künstlerisch revolutionär und setzten auch ihre Gesellschaften dem Säurebad der Subversion aus.
Brecht spricht vom „Beginnergefühl“ und findet später, dass der Stil „zitierbar“ sein solle und die Realität so dargestellt werden, „dass sie meisterbar wird“. Was heißt das?
Robert Misik: Es gibt dieses Berserkerhafte dieser jungen Leute, am Ende des 1. Weltkrieges, als alle Ordnungen zusammenbrachen und damit auch die hergebrachten moralischen Ordnungen, den Expressionismus, der rausschreit, zertrümmert. Brecht formt aber dann auch gleich, also relativ gleich. „Das Chaos ist aufgebraucht, es war die beste Zeit“, heißt es in den Schluss-Sentenzen von „Im Dickicht der Städte“. Brecht macht politisches Theater, entwickelt eine eigene Bühnenästhetik, ohne die das heutige Theater nicht vorstellbar ist, ja nicht einmal zu verstehen ist. Es ist ein politisches Theater, das das Publikum zum Handeln ermächtigen sollte, ein intellektuelles Theater, das etwas zeigt. Dabei bemühte sich Brecht auch immer um einen einfachen Stil, Benjamin spricht vom „plumpen Denken“, das das Denken der Großen sei. Mich erinnert das auch immer an George Orwell und seine Gedanken über den „plain style“, den „einfachen Stil“. Es ist leicht, kompliziert zu schreiben. Schwierig ist es, einfach zu schreiben. Ich kann dem als Autor auch viel abgewinnen.
Nach der Moderne kommt die Postmoderne, die nicht mehr an Tabula Rasa glaubt, sondern sagt: Alles war schonmal da, ich kann nur noch zitieren, collagieren, ironisieren, problematisieren?
Robert Misik: Oder die Postmoderne ist nur eine Episode der Moderne, was weiß man. Phasen depressiver Stockung gab es auch in den vergangenen zweihundert Jahren immer wieder. Und zitiert, umgeformt, das Vorhandene genommen, zerlegt und neu zusammengesetzt – auch das hat man doch über weite Phasen der Moderne. Die klar abgetrennte Eigenständigkeit der Postmoderne, ich bin nicht völlig überzeugt von dieser beliebten Annahme.
Von Balzac über Picasso bis Warhol, die meisten deiner Beispiele sind männlich?
Robert Misik: Find ich gar nicht, dass meine Beispiele so männerdominiert sind, von George Sand bis Lou Andreas-Salomé haben da schon in den frühen Jahren der Moderne große Frauen ihren Auftritt. Aber klar ist: der Kanon der Moderne und der Avantgarden wurde primär von Männern geschaffen, und übrigens auch primär von Männern aus reicher Familie. Virginia Woolf hat das in „Ein Zimmer für sich allein“ eindrucksvoll beschrieben. Das Bohème-Ideal des energetischen, virilen, riskant und intensiv lebenden Künstlers war männlich geprägt, und diese Prägung wirkte dann wiederum zurück. Und selbst wenn Frauen sich durchsetzen konnten, hatten sie es dann doch schwerer, in den Kanon aufzusteigen, zur ästhetischen Referenz zu werden. „Frauenliteratur“ wurde per se abgewertet, auch der „Coming of Age“-Roman handelt meist von jungen Männern, die Schwierigkeiten haben, ihrer Identität unsicher sind, in die Welt hinaus gehen und die Schwierigkeiten überwinden. „Frauenliteratur“ handelt dagegen eher von Frauen, die an den bizarren Einschränkungen und Anforderungen zerbrechen. Dass Frauen in allen Kunstfeldern realistische, wenn nicht sogar gleiche Chancen haben, ist eine höchst rezente Sache.
Du schreibst auch über Patti Smith, die auf ihrem Erfolgs-Debüt-Album „Horses“ in ‚Männerkleidern‘ posiert. Ein Wort zu ihr?
Robert Misik: „Jesus died for somebody‘s sins but not mine.“ – Fantastische Zeilen sind das schon. Patti Smith in Männerkleidung, das ist natürlich das absolute Gegenprogramm zur Hippie- und Bohème-Ästhetik der sechziger Jahre gewesen, aber auch Reverenz an George Sand.
Zum Abschluss aus einem frühen Brecht-Gedicht, das du zitierst: „Wenn die Irrtümer verbraucht sind/Sitzt als letzter Gesellschafter/Uns das Nichts gegenüber“. Bedrohend oder tröstlich?
Robert Misik: Na klar bedrohlich! Aber Brecht hat mit seinem Herrn Keuner gleich das Gegengift geliefert: „Ich habe viel Mühe, ich bereite meinen nächsten Irrtum vor!“ Ich finde, das ist sogar ein herrliches Lebensmotto.
Veröffentlichung: 6.9.22