Warum eigentlich ... Erinnerungsweltmeister?

Caroline Finkeldey von der Jungen DGO – Deutsche Gesellschaft für Osteuropakunde Bremen im Gespräch mit Schauspieldramaturg Stefan Bläske über „Offene Wunden Osteuropas“ und den Auftakt der OSTOPIE-Reihe

Stefan Bläske: Täglich neue Wunden in der Ukraine. Aber das Buch „Offene Wunden Osteuropas“ meint alte und blickt zurück auf den Zweiten Weltkrieg. Worum geht es?

Caroline Finkeldey: Deutschland sieht sich gerne als „Erinnerungsweltmeister“. Wenn es jedoch um deutsche Verbrechen in Osteuropa geht, herrscht in unserem kollektiven Gedächtnis oft Leere. Hier setzen Franziska Davies und ihre Ko-Autorin an. Sie reisen zu Erinnerungsorten im östlichen Europa, die hierzulande nahezu unbekannt sind. Und das, obwohl Deutschland dort für den Tod von Millionen Menschen und unermessliches Leid verantwortlich ist.

Um welche Orte handelt es sich genau?

Caroline Finkeldey: Beispielsweise um die Schlucht Babyn Jar bei Kyjiv. Dort erschossen die Nationalsozialisten im September 1941 innerhalb von 48 Stunden 33.000 Kiewer Juden und Jüdinnen. Ein in Deutschland nahezu unbekannter Ort ist das kleine Dorf Bełżec im östlichen Polen. Im gleichnamigen Vernichtungslager wurden in einem halben Jahr mehr als 400.000 Menschen ermordet. Fast alle Opfer waren Juden und Jüdinnen oder Roma und Romnja. Davies und ihre Ko-Autorin schreiben aber nicht nur darüber, was an diesen Orten passiert ist, sondern auch wie mit diesen Verbrechen heute umgegangen wird. Denn Geschichte ist nie vergangen, sondern beeinflusst auch die aktuelle Politik. Das zeigt sich wieder bei Russlands Krieg gegen die Ukraine.

Sind die Verbrechen von Wehrmacht und SS, ist die deutsche Schuld ein Argument für oder gegen aktuelle Waffenlieferungen an die Ukraine? Oder anders gefragt: Was lässt sich aus der Geschichte lernen?

Caroline Finkeldey: Vor dem großflächigen Angriff Russlands hörte man oft ein Argument: Es dürfe nicht sein, dass nach dem Zweiten Weltkrieg erneut mit deutschen Waffen auf Russland geschossen wird, denn Deutschland habe eine historische Verpflichtung gegenüber Russland. Dabei wird vergessen, dass wir diese historische Verantwortung auch gegenüber der Ukraine und Belarus haben. Hitler hat nicht Russland, sondern die Sowjetunion angegriffen – einen multiethnischen Staat, der aus 15 Republiken bestand. Und diesen Nachfolgestaaten – beispielsweise der Ukraine, Belarus, Moldau – sind wir genauso verpflichtet. Dasselbe gilt auch für die Länder Ostmitteleuropas, wie z.B. Polen, und Südosteuropas. Wir dürfen das Argument der historischen Verantwortung nicht verdrehen, um die Ukraine, 81 Jahre nach Beginn der deutschen Besatzung, einem diktatorischen und verbrecherischen Regime auszuliefern.

„Offene Wunden“ ist der Auftakt unserer Reihe OSTOPIE. Was interessiert dich an dieser Reihe als jemand, der schon in Russland gelebt hat und nun sagt „Es wird zu viel über Russland geredet“?

Caroline Finkeldey: Ich kann das Interesse an Russland verstehen – ohne Frage! Doch über diese Faszination werden in Deutschland oft die anderen Länder des östlichen Europas vergessen. Von Tolstoi und Dostojewski hat fast jeder gehört. Aber wer kennt Lessja Ukrajinka, Adam Mickiewicz oder Ivo Andrić? Mit der OSTOPIE-Reihe möchten wir das ändern. Wir möchten den Blick auf Länder lenken, die nur selten im Fokus stehen. Denn diese Region, die wir Osteuropa nennen, besteht aus unterschiedlichsten Ländern mit großartiger Literatur und Kultur, mit mutigen Aktivist:innen, die für ihre Rechte kämpfen. Ich freue mich daher sehr, dass wir in der OSTOPIE-Reihe beispielsweise über feministische Kämpfe im östlichen Europa sprechen werden und so auch die Meinungsvielfalt in den Ländern abbilden. In Polen gibt es sehr aktive feministische Organisationen, die sich für das Recht auf Abtreibung einsetzen oder für LGBTQ-Rechte kämpfen. Diese Stimmen gehen im deutschen Diskurs oft unter.

Neben dem Theater und eurer DGO – Deutsche Gesellschaft für Osteuropakunde ist der dritte Partner die Heinrich-Böll-Stiftung. Das sorgt für Probleme.

Caroline Finkeldey: Russland hat die Heinrich-Böll-Stiftung zu einer unerwünschten Organisation erklärt. Das kommt einem Verbot gleich – Aktivitäten der Organisation in Russland sowie die Zusammenarbeit mit russischen Organisationen stehen unter Strafe. Das betrifft auch alle, die mit ihr in Verbindung stehen: Journalist:innen, Wissenschaftler:innen, aber auch ganz normale Bürger:innen. Wer beispielsweise auf einer Veranstaltung von Böll auftritt, kann Probleme bekommen. Die Kriterien, wer und wie bestraft wird, sind absichtlich schwammig formuliert. Das sorgt für große Unsicherheit. Wenn wir russische oder russischstämmige Gäste zu unserer Veranstaltungsreihe einladen, müssen wir uns immer fragen, ob wir sie und ihre Familien möglicherweise in Gefahr bringen.

 

 

Veröffentlicht am 4. November 2022