Warum eigentlich ... Jagd auf Wale?
Dr. Helena Herr vom Institut für Hydrobiologie und Fischereiwissenschaft der Universität Hamburg im Gespräch mit Schauspieldramaturg Stefan Bläske über Moby Dick und die Bedrohungen der Wale durch Mensch und Klimawandel.
Stefan Bläske: Wir spielen am Theater Moby Dick, einen Abend über den weißen Wal. Herman Melville hat seinen Roman 1851 veröffentlicht. Wie ist es den Walen seither ergangen?
Helena Herr: Die Zeit, in der Melville seinen Roman schrieb, markiert den Höhepunkt und kurz darauffolgenden Niedergang des historischen Walfangs. Mitte des 19. Jahrhunderts waren die Meere der Nordhalbkugel praktisch leergefischt und der Walfang war aus ökonomischen Gesichtspunkten bald nicht mehr sinnvoll. Einzig die schnellschwimmenden Arten der Furchenwale, wie der Blauwal und der Finnwal, waren noch nicht dezimiert, da sie mit den bis dahin gängigen Walfangmethoden fast nicht zu erlegen waren.
Was geschah dann?
Helena Herr: Die Dampfschifffahrt und die Erfindung der Harpunenkanone 1860 läuteten den modernen Walfang ein, der alle Großwalpopulationen der Welt an den Rand des Aussterbens brachte. Die schnellschwimmenden Arten und bis dahin unerreichte Fanggründe, insbesondere in der Antarktis, wurden in rasantem Tempo und mit hoher Effizienz ausgebeutet, bis 100 Jahre später – viel zu spät – die ersten Schutzmaßnahmen ergriffen wurden. Erst 1986 wurde der kommerzielle Walfang weltweit (mit wenigen Ausnahmen) eingestellt. Bis dahin waren allein in der Südhemisphäre über 2 Millionen Großwale erlegt worden und die meisten Großwalarten auf weniger als 2 Prozent ihrer ursprünglichen Populationsgröße dezimiert worden. Seither haben sich nur wenige Großwalpopulationen wieder gut erholt, die meisten sind zahlenmäßig noch deutlich unter ihrer ursprünglichen Populationsgröße, und mehrere Großwalpopulationen sind weiterhin stark gefährdet.
Kapitän Ahab jagt Moby Dick aus persönlicher Rache und Hybris („Ich werde selbst die Sonne schlagen, wenn sie mich beleidigt“). Für die Crew zählen vor allem wirtschaftliche Gründe. Warum werden Wale heute noch gejagt?
Helena Herr: Heutzutage bestehen drei verschiedene Formen des Walfangs: der Subsistenzwalfang, der kommerzielle Walfang und der wissenschaftliche Walfang. Subsistenzwalfang betreiben indigene Völker u. a. im hohen Norden und in der Karibik, mit festgelegten Quoten vorrangig zu Ernährungszwecken. Kommerzieller Walfang wird von Norwegen und Island und seit wenigen Jahren auch wieder von Japan, jeweils beschränkt auf ihre Gewässer, betrieben. Ein wesentlicher Grund besteht in Traditionen, Kultur und einem Gefühl der Berechtigung. Wirtschaftliche Gründe sind heute nebensächlich. Tatsächlich wird der Walfang sogar subventioniert, da er sich nicht mehr selbst trägt.
Was hat es mit dem „wissenschaftlichen Walfang“ auf sich?
Helena Herr: Der wird viel thematisiert, findet aber derzeit nicht mehr statt. Japan hatte wissenschaftlichen Walfang als Schlupfloch genutzt, um trotz der Unterzeichnung des Walfangmoratoriums der Internationalen Walfangkommission (IWC) weiter Wale jagen zu können. 2019 trat Japan aus der Internationalen Walfangkommission aus, war somit nicht mehr an das Moratorium gebunden und nahm den kommerziellen Walfang wieder auf – allerdings beschränkt auf ihre Gewässer und zum Beispiel nicht länger in der Antarktis.
Wodurch sind Wale heute bedroht?
Helena Herr: Obwohl auch heutzutage noch Walfang stattfindet, stellt er bei weitem nicht mehr die größte Bedrohung dar. An seine Stelle sind viele neue Bedrohungen getreten. Übergeordnet, wie für alle Ökosysteme, der Klimawandel. Für Wale bedeutet der Klimawandel räumliche Verschiebungen oder Dezimierungen von Beuteorganismen durch die Erwärmung und Ansäuerung der Meere, den Rückgang des Meereises in Arktis und Antarktis und damit einhergehende Nahrungsverknappung.
Und neben dem Klimawandel?
Helena Herr: Andere Bedrohungen bestehen im Beifang, insbesondere für Kleinwale wie zum Beispiel Delfine, aber auch Großwale verfangen sich regelmäßig in Netzen oder Meeresmüll. Die Verlärmung der Meere führt zu Einschränkungen in der Orientierung, Kommunikation und Beutefindung bei Walen – besonders laute Schallquellen unter Wasser wie militärisches Sonar oder seismische Explorationen können zu dauerhaften Hörschäden oder dem Tod führen. Schiffskollisionen, Wasserverschmutzung, Überfischung und Küstenbaumaßnahmen stellen weitere Bedrohungen dar.
Moby Dick ist ein Pottwal. Woran erkennen Sie Wale, wenn Sie auf Hoher See sind?
Helena Herr: Man kann die Arten etwa daran unterscheiden, wie sie auftauchen oder wie sich der Rücken an der Oberfläche zeigt. Einen Pottwal wie Moby Dick erkennt man an seinem dicken Kopf, der so ganz anders ist als der aller Bartenwale – schließlich ist der Pottwal der einzige Zahnwal unter den Großwalen! Zudem ist sein Blasloch nicht mittig auf dem Kopf, sondern auf seiner linken Kopfhälfte. Damit ist sein Blas bei windstillen Bedingungen auch nach links gerichtet, nicht senkrecht.
Sie werten für Ihre Forschung vor allem Zahlen, Fakten und Daten aus. Haben Sie auch schon bestimmtes Verhalten von Walen erlebt, das Sie überrascht oder berührt hat?
Helena Herr: Auswertungen und Schreibtischarbeit stellen zeitmäßig den größten Teil meiner Arbeit dar. Doch unsere Walsurveys, die Feldarbeit und Sichtungen der Wale, stellen für mich jedes Mal ein besonderes und erhabenes Erlebnis dar. Wir führen unsere Surveys hauptsächlich aus der Luft durch, in der Antarktis immer mit Helikoptern, die auf Schiffen basiert sind. Vom Helikopter aus hat man die Möglichkeit, das gesamte Tier zu sehen – nicht nur den Rücken, wie vom Schiff aus – und in der Luft anzuhalten und bei den Tieren zu verweilen. Das gibt einem die Möglichkeit, die Tiere länger zu beobachten, ihre Schwimmbewegungen zu verfolgen und die Ruhe und Kraft, mit der sie durchs Wasser gleiten. Mich fasziniert und bewegt das eigentlich jedes Mal und ich kenne kaum jemanden, den das kalt lässt. Zudem hatte ich einige Beobachtungen, die besonders hervorstachen und an die ich mich immer erinnern werde: eine große ‚Fressorgie‘ von Finnwalen; zwei Schwertwale, die einen Pinguin jagten (der schließlich entkam); Buckelwale, die ein Blasennetz formten; zwei Zwergwale, die mühelos durch die Eisschollen der Antarktis manövrierten. Bilder, die sich eingebrannt haben.
Apropos Fressorgie: Wie stehen Sie allgemein zu Fischfang und Fischverzehr?
Helena Herr: Zunächst einmal gilt hervorzuheben, dass der Wal kein Fisch ist, sondern ein Säugetier. Melville war sich da noch nicht so sicher, aber heute wissen wir das. Beim Fischfang kommt es auf Nachhaltigkeit an. Aus meiner Sicht spricht nichts gegen eine nachhaltige und regulierte Befischung von Fischbeständen und Fisch als Nahrung. Für viele Menschen auf dieser Welt stellt sich diese Frage auch gar nicht, da sie von Fisch als Lebensmittel abhängig sind – so fast alle Menschen entlang der Küsten der sogenannten Entwicklungsländer. Ich halte dementsprechend nichts vom kürzlich in der Doku „Seaspiracy“ postulierten Veganismus als Lösung des Überfischungsproblems der Weltmeere. Diese Lösung wäre nur eine für wenige privilegierte Menschen. Vielmehr wäre eine länderübergreifende, sinnvoll umgesetzte Fischereipolitik samt einer Nachhaltigkeitsstrategie sinnvoll, um den Fortbestand gesunder Fischpopulationen für nachfolgende Generationen zu gewährleisten. Dem entgegen stehen z.B. Industriefischerei zur Futtermittelgewinnung, hohe Beifangraten und geringe Beifangverwertung, nicht nachhaltige Fischereimethoden etc.
Und Walfang?
Helena Herr: Wenn, basierend auf einer robusten Bestandsabschätzung, Kenntnis von Populationsstruktur und Reproduktionsraten, verlässlich berechnet werden kann, wie viele Tiere dem Bestand im Sinne einer nachhaltigen Bewirtschaftung entnommen werden können, wäre auch ein nachhaltiger Walfang irgendwann möglich. Doch dieses Wissen liegt derzeit nur für wenige Walpopulationen auf der Welt vor und nur wenige Walpopulationen haben überhaupt wieder Populationszahlen erreicht, die eine Entnahme rechtfertigen könnten. Und für mich persönlich hat sich die Menschheit an dieser Tiergruppe so stark versündigt, dass es moralisch noch nicht vertretbar ist, ihnen schon wieder zuzusetzen.