Warum eigentlich ... Stalingrad?
Camilla Lopez von der Jungen DGO, Deutsche Gesellschaft für Osteuropakunde, im Gespräch mit Dramaturg Stefan Bläske über Wassili Grossmans „Leben und Schicksal“, offene Wunden und postsowjetische Literatur.
Stefan Bläske: „Leben und Schicksal“ klingt ähnlich vertraut wie „Krieg und Frieden“, aber ganz so bekannt ist Autor Wassili Grossman nicht. Wie bist du auf ihn gestoßen?
Camilla Lopez: 2017/18 habe ich ein Jahr für das Goethe-Institut im südrussischen Wolgograd gearbeitet. Die Stadt hieß bis 1961 Stalingrad. Im öffentlichen Raum erinnert fast alles an den Sieg der Roten Armee in der Schlacht von Stalingrad 1942/1943. Zentral ist der monumentale Gedenkkomplex mit seiner 85 Meter hohen Kolossalstatue „Mutter Heimat ruft“. Am Gedenkkomplex ist ein Zitat Grossmans angebracht, der als Kriegsberichterstatter für den Roten Stern auch in Stalingrad war. Aber seine Romane waren Jahrzehnte lang verboten, sein Name steht auch heute nicht bei dem Zitat.
Warum wurde „Leben und Schicksal“ verboten?
Camilla Lopez: Der Roman wird der Tauwetterliteratur zugerechnet. Nach dem Tod Stalins 1953 und dem XX. Parteitag der KPdSU 1956, in der die Entstalinisierung eingeleitet wurde, kam es zu einer kurzzeitigen Öffnung in der Kulturpolitik. Kritik und Auseinandersetzung mit dem Stalinismus waren unter Chruschtschow teilweise möglich. Grossman arbeitete acht Jahre an diesem Roman. Als er 1960 sein Manuskript einreichte, hatte er nicht damit gerechnet, dass es nicht durch die Zensur gehen würde. Der Roman war zu explizit. Alle Manuskripte wurden beschlagnahmt und sogar die Schreibmaschinen-Bänder. Nur ein Durchschlag überlebte und wurde postum in die Schweiz geschmuggelt, wo der Roman 1980 erschien. In der Sowjetunion erschien er 1988 im Zuge der Perestroika.
Was machte den Roman so brisant?
Camilla Lopez: Das Brisante am Roman ist, dass er vordergründig die heldenhafte Schlacht von Stalingrad schildert und gleichzeitig Tabuthemen der sowjetischen Geschichtspolitik sowie der staatlich kontrollierten Literaturproduktion behandelt: Grossman ist einer der ersten, der offen den Holocaust auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion (heute besonders Belarus und Ukraine) thematisiert und auch den Stalinismus mit seiner politischen Verfolgung jüdischer Intellektueller und Regimekritiker benennt. Er vergleicht explizit Nationalsozialismus und Stalinismus, was der staatstragenden Erzählung des Sieges im „Großen Vaterländischen Krieg“ (wie der Zweite Weltkrieg auf sowjetischem Territorium in Russland bis heute genannt wird) massiv zuwiderlief. Sein Roman wurde 1961 vom KGB konfisziert. Bis zu seinem Tod 1964 verlangte der Autor „Freiheit für sein Buch“.
Ins Heute: Was macht ihr in der Jungen DGO?
Camilla Lopez: Die Deutsche Gesellschaft für Osteuropakunde DGO ist der Verband von Osteuropaexpert:innen aus Wissenschaft, Politik und Kultur im deutschsprachigen Raum. Die Junge DGO vereint Nachwuchswissenschaftler:innen und Berufseinsteiger:innen, die sich in unterschiedlichen Disziplinen mit dem östlichen Europa von Polen, dem Baltikum, über die Ukraine bis nach Zentralasien beschäftigen. In Bremen gibt es seit 2020 eine Regionalgruppe für alle Interessierten, ob akademisch oder außerakademisch. Die Gruppe veranstaltet alle zwei Monate einen Stammtisch sowie Podiumsdiskussionen, aber auch (Foto-)Ausstellungen wie etwa 2021 die Fotoausstellung Chernobyl Memory Tour im Haus der Wissenschaft.
Mit der Heinrich Böll-Stiftung Bremen und unserem Theater kuratiert ihr nun die Reihe OSTOPIE. Was interessiert dich da?
Camilla Lopez: Ich interessiere mich besonders für Geschichtskultur und Migrationsgeschichte. Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 kamen Millionen sogenannter Kontingentflüchtlinge und Spätaussiedler nach Deutschland. In der Debatte um Deutschland als Einwanderungsland melden sich sogenannte post-ost Autoren wie Max Czollek, Olga Grjasnowa immer mehr zu Wort und prägen den postmigrantischen Diskurs. Ich finde es wichtig, in der aktuellen, aufgeheizten Diskussion um Russlands kriegerische Außenpolitik und seine unmittelbaren Konsequenzen für die deutsche Bevölkerung, Stichwort: Energiepreis, zu verstehen, dass Russisch zu sprechen keine politische Positionierung bedeutet. Außerdem reizt mich das Thema Geschichtskultur und Erinnerung(saktivismus).
Damit startet am 8. November auch unsere Veranstaltungsreihe.
Camilla Lopez: Ja, mit einer Vorstellung des Essaybandes Offene Wunden Osteuropas – Reisen zu Erinnerungsorten des Zweiten Weltkriegs durch die Osteuropahistorikerin Franziska Davies. Gemeinsam mit der Historikerin Katja Makhotina thematisiert sie die Erinnerungskultur an im östlichen Europa verübte Verbrechen der Wehrmacht. Der Band bringt Essays zusammen, die die Öffentlichkeit in Deutschland mit deutschen Erinnerungslücken konfrontiert. Wem ist schon vor dem russischen Angriffskrieg Babyn Jar – Schauplatz der Vernichtung des sowjetischen Judentums – ein Begriff gewesen? Auch sind die Blockade von Leningrad oder Malyj Trostenez in Belarus wohl kaum Teil unseres kollektiven Gedächtnisses.
Hast du vor dem Hintergrund des aktuellen Krieges noch Leseempfehlungen?
Camilla Lopez: Sehr empfehlen kann ich moderne russischsprachige Autoren, die sich aus postsowjetischer Sicht mit der russischen Gesellschaft unter Putin auseinandersetzen, wie den bekannten regimekritischen Autor Wladimir Sorokin, der eine perfide Erzählung Tag des Tschekisten geschrieben hat oder den weniger bekannten belarusischen Autor und Politikwissenschaftler Viktor Martinowitsch. Sein Roman Revolution läuft auch in einer Inszenierung in Hamburg, von Dušan David Pařízek, der in Bremen gerade Drei Schwestern inszeniert hat. Wer sich eher für dokumentarische Stoffe interessiert, dem kann ich von ganzem Herzen die Literaturnobelpreisträgerin 2015, Svetlana Alexijewitsch, empfehlen, die sich in Secondhand Zeit mit Lebenserfahrungen in der postsowjetischen Gesellschaft beschäftigt. Im gescheiterten Revolutionsversuch 2020 in Belarus ist sie auch als Sprecherin der Oppositionsbewegung hervorgetreten – und meines Wissens nun im Exil in Deutschland.
Veröffentlicht am 26. September 2022