Warum eigentlich ... Weihnachten?
Stefan Bläske, Leiter der Schauspieldramaturgie, grincht sich zu einer kleinen Weihnachtspolemik.
Was war da los in Deutschland, Anfang Dezember 2020? Der europäische Musterknabe oder sagen wir das Mustermädchen wurde leichtsinnig, unsere Nachbar*innen fassten sich an den Kopf. Zeitungen titelten, dass Deutschland kein vorsichtiges Vorbild mehr sei und der belgische Premierminister tadelte: „Ich möchte den Fortschritt der letzten vier Wochen nicht wegen vier Tagen aufs Spiel setzen.“ Da greift erstmal der nationalistische Abwehrreflex: Alexander De Croo, who? Wechseln die Belgier*innen ihre Premiers nicht öfter als die Socken? Und sollten sie nicht vor dem eigenen Tore kehren, während ihre Patient*innen in Aachener Krankenhäusern versorgt werden? Wie heißt es in der Feld- und Bergpredigt: „Den Balken im eigenen Auge, Bruder, siehst du nicht?“
Was ist jenes Fest, für das gestrenge Politiker*innen so nachlässig wurden?
Muss man sich wundern? Wir leben im „christlichen Abendland“, werden seit Jahrzehnten indoktriniert von Coca-Cola-Hohoho und fast ebenso lang regiert von zwei Parteien mit `nem C. Zugleich aber hat Weihnachten „für 40 Prozent der deutschen Bevölkerung keine besondere Bedeutung“, wie Publizistin Lamya Kaddor jüngst bei Sandra Maischberger relativierte. Klar, Weihnachten ist schön, weil es Feiertage sind, arbeitsfrei für alle „Nichtsystemrelevanten“, weil es Geschenke gibt und ganz viel Fett und Zucker. (Der Deutschen Zuckerkonsum liegt international übrigens im Mittelfeld, mit 32 Kilo pro Person und Jahr, macht 28 Zuckerwürfel jeden Tag.) Da springt es an, das mesocortikolimbische dopaminerge Belohnungssystem in unserem Hirn.
Supercalifragilisticexpialidocious!
Weihnachten ist ein Atavismus. 52 Prozent der Gesamtbevölkerung sind heute noch katholisch (27%) oder evangelisch (25%), zum Vergleich: 1956 waren es 96 Prozent. Doch was von dieser Kirchenmitgliedschaft ist Überzeugung? Wie viel Gewohnheit oder Rücksicht auf die Großeltern oder Wunsch nach kirchlichen Hochzeiten und Beerdigungen? Als ich austreten wollte (nach dem Tod meiner Oma, ja), versuchte mich die Beamtin in der Stadtverwaltung (im katholischen BaWü), obgleich eigentlich zu staatlicher Neutralität verpflichtet, davon abzubringen. „Die tun doch auch viel Gutes, die Caritas zum Beispiel.“ Mag sein, und auch bei der Hilfe für Geflüchtete haben sich viele vorbildlich engagiert. Aber die (katholische) Kirche ist eben auch ein sexistischer Dinosaurierverein, der selbst im 21. Jahrhundert noch Kindergärtner*innen entlässt, nur weil sie zum zweiten Mal heiraten. Ein Heuchlerbund, der mit universellem Gestus auftritt, aber die Hälfte der Menschheit (Frauen) fernhält von verantwortungsvollen Positionen. Der aufs Jenseits vertröstet und Beichten abnimmt von seinen „Schäfchen“, aber die Wölfe in den eigenen Reihen stärker schützt(e) als deren Opfer.
Eine Frau als Päpstin? Jede Eiswette, dass das noch dauert ...
Wenn die Bremer Eiswette schon so ein Trara nötig hatte, um endlich ein paar Frauen zuzulassen, nach 200 Jahren Tradition, wie lange wird die 2000 Jahre alte Kirche wohl noch brauchen? Und wann wird die Trennung von Staat und Kirche zu Ende gebracht? Wann die christliche Religion nur noch eine von vielen Glaubenslehren in einem global begriffenen Ethik- und Grundwerte-Unterricht? Und warum zahlen die Bundesländer – außer Hamburg und Bremen! – der Kirche jährlich eine halbe Milliarde an „Staatsleistungen“ (Stichworte: 1803 / Vermögenssäkularisierung / Reichsdeputationshauptschluss / 1919)? Neben diesen und weiteren Subventionen treibt unser säkularer Staat außerdem eine Kirchensteuer ein, die sich auf Basis des Einkommens berechnet. Warum nicht auf Basis z.B. der Himmels- und Luftverschmutzung? Oder des Vermögens? Vermutlich, weil die Kirche mit ihren Innenstadtimmobilien (in Deutschland ca. 45.000 Kirchen) sonst selbst viel zahlen müsste? Aber genug der billigen Kirchenkritik.
Es ist natürlich trotzdem richtig, dass Kirchen offen bleiben, zur Ausübung der Religionsfreiheit.
Und das ist kein Argument etwa für Theater, auch zu öffnen. Die Kunstfreiheit ist nicht in Gefahr, nur weil unsere Produktionsmaschinen in einer Pandemie mal ein paar Monate kein Publikum haben dürfen. Wer Religions- und Kunstfreiheit, wer die Freiheiten „zu“ und „von“ (etwa von Zensur) derart in einen Topf wirft, tut nicht nur der Verfassung unrecht, sondern verhöhnt auch jene Künstler*innen, die wirklich unter Einschränkungen der Kunstfreiheit zu leiden haben, von China bis Russland. Wir, die privilegiert an festen Theatern angestellt sind, sollten mal innehalten, statt zu lamentieren und immer weiter auf Halde zu produzieren.
Derweil versuchen wir, Ihnen Corona- und Christmas-taugliches zu offerieren.
Täglich verstecken Mitarbeiter*innen Adventskalenderüberraschungen in der Stadt. Dank einer App können Sie durch Bremen spazieren und an bestimmten Orten unseren Spieler*innen und Sänger*innen lauschen. Das Musiktheater nimmt Adventskonzerte auf fürs Netz, in den Gängen hallt es herrlich. Und das Schauspiel setzt die Tradition des beliebten Rentierpunsches online fort, mit Geschichten an den vier Dezembersonntagen. Gleich die erste, Weihnachten steht vor der Tür von Monika Feth, handelt von einem Kater, der sich wundert, dass es nicht klingelt. Und dass da gar niemand steht, vor der Tür. Wo bleibt er (oder sie) denn, und warum sagen alle, dass diese(r) Weihnachten vor der Tür steht? Der Kater beobachtet das seltsame Verhalten der Menschen und fragt sich, warum diese(r) Weihnachten so viele Opfer fordert, zum Beispiel abgehackte Tannenbäume. Was soll das denn?
Jährlich stehen 23 bis 26 Millionen Weihnachtsbäume in deutschen Wohnzimmern.
Mit den Weihnachtgeschichten ist es ganz amüsant. Die meisten versuchen, ein Gefühl von Nostalgie und Wohlbefinden zu erzeugen, manche machen sich (ein bisschen) lustig über Traditionen, und fast alle haben irgendwelche moralischen Botschaften, sind Plädoyers für Toleranz oder Mitgefühl. Und trotzdem fühlen sich viele Geschichten auch oll und ungut an. Die Männer hacken Holz, die Frauen backen oder stricken, die Mädchen weinen und die Jungs wollen „Indianer“ spielen. Und das Happy End etwa vom Grinch, der Weihnachten hasst und dann doch schätzen lernt, besteht darin, dass er am Ende mitmacht und – den Gänsebraten zerteilt. Entsprechend steigt der Fleischkonsum zum Jahresende an, mit Truthahn, Kalb und Karpfen, und Gänsen eben, 600.000 werden hierzulande jedes Jahr geschlachtet. Auch darum präsentieren wir nun Weihnachtsgeschichten aus nichtmenschlichen Perspektiven, zum Beispiel von einem Tannenbaum und einer Gans. Das öffnet amüsant die Augen. Und künftig wird es dann vielleicht auch mal eine Weihnachtsfrau geben, und sicher mehr weibliche Autorinnen und starke Heldinnen, wie wir sie etwa in unserem Familienstück Ronja Räubertochter haben, das bald Premiere feiern wird (naja, sobald wir eben dürfen). Und überhaupt werden wir nicht nur zu Weihnachten Geschichten lesen, sondern auch zum Zuckerfest (ja, Zucker!), Weltfrauentag und Equal Pay Day ...
Zurück zu den Weihnachtslockerungen.
Als ich Anfang Dezember diesen grummeligen, vom Grinch inspirierten Text begann, sollte die Botschaft sein: Bleiben Sie daheim. Nur weil die deutsche Politik erlaubt, wie wild zu Shoppen und an Weihnachten zehn Leute zu treffen, müssen Sie das ja noch lange nicht tun. Es ist doch eh entspannter (und billiger) mit weniger. Inzwischen freilich wird ohnehin schon wieder nachgeschärft und nachgewürzt. Also, wann hat man schon mal so `ne gute Ausrede? Wenn dann als „Kollateralschaden“ ein paar Millionen Bäume und Hunderttausend Gänse weniger sterben sollten, wäre das ja auch nicht so verkehrt. Zumal in Bezug auf die längerfristig wartenden Bescherungen, die vor der Türe stehen, huhuhu, und deren Klingeln wir so gerne überhören … Frohe Adventszeit allerseits, bleiben Sie gesund und „negativ“!