Warum Erich Kästner frühe All-Age-Literatur schrieb
Kurz vor der Musical-Premiere von Der 35. Mai fragt die Dramaturgin Caroline Scheidegger, warum Kästner nicht nur ein wahnsinnig toller Kinderbuchautor ist. Ein Gespräch mit Stefan Neuhaus, Professor für Neuere deutsche Literatur an der Universität Koblenz und Herausgeber des Kästner-Handbuchs.
Caroline Scheidegger: Erich Kästner wäre in diesem Jahr 125 Jahre alt geworden und vor 50 Jahren ist er gestorben. Warum lohnt sich Kästner immer noch? Was macht ihn so zeitlos?
Stefan Neuhaus: Bezeichnend für Kästner ist sicherlich, dass er als Autor unglaublich vielseitig war. Er hat die unterschiedlichsten Genres und Sparten bedient, auch die Medien: vom Gedicht bis zum Drama, Romane, Texte für Kinder und Erwachsene. Eine große Begeisterung hatte er für das Theater und den Film, beides hat ihn sein Leben lang nicht losgelassen. Er hat selbst Theaterstücke geschrieben, als Rezensent viele Theateraufführungen und Filme besprochen. Dazu kommt, dass Kästner einen Stil hat, der unverwechselbar ist. Natürlich steht er in Traditionen, aber sein Stil ist sehr auf den Punkt. Er ist sehr prägnant in seinen Formulierungen, zugleich aber auch sehr originell. Diese Kombination aus Originalität und Prägnanz, das ist etwas Besonderes. Das macht ihn so lesbar. Wenn man Kästner liest, dann ist jede Zeile, jeder Satz, fast schon jedes Wort ein Aha-Erlebnis.
Kassenschlager waren ja vor allem Kästners Kinderbücher. Am Theater Bremen bringen wir seinen Kinderroman Der 35. Mai als Musical für alle auf die Bühne. Unsere These ist, dass Kästner, auch wenn er für Kinder schreibt, für alle erzählt.
Genau. Es gibt das schöne Zitat von ihm, „nur wer erwachsen wird und Kind bleibt, ist ein Mensch.“ Kästner hat Kindheit und Erwachsensein immer zusammen gedacht. Trotzdem war er sich sehr bewusst, dass er für Kinder anders schreiben muss als für Erwachsene. Insofern könnte man sagen, dass seine Kinderliteratur mehrfach adressiert ist. In den Texten für Kinder sind zum Beispiel viele Anspielungen versteckt – auf andere Werke (Stichwort Intertextualität) oder auch auf andere Medien wie den Film. Diese Anspielungen verstehen Kinder in der Regel nicht, sie sind mehr für die Erwachsenen, die Mitleser:innen, gedacht. Denn bis zur Pubertät sind es ja meist die Eltern, die den Kindern die Texte vorlesen oder sie auch für die Kinder aussuchen. Vieles, was Kinder lesen, wird gesteuert durch das, was Erwachsene glauben, was Kinder lesen sollten. Und insofern ist Kinderliteratur in der Regel auch an Erwachsene mitadressiert. Bei Kästner hat das aber nochmal eine andere Qualität: Seine Texte sind das, was man heute als All-Age-Literatur beschreiben würde. Seine Kinderbücher sind frühe All-Age-Literatur. Also eigentlich für Erwachsene und für Kinder.
Das trifft ja auch sehr auf den 35. Mai zu: Konrads und Onkel Ringelhuths Reise durch fünf unterschiedliche Fantasiewelten ist einerseits eine Abenteuergeschichte, aber es klingt auch unglaublich viel Zeit- und Gesellschaftskritisches an. Eine Ebene, die gerade für Erwachsene interessant ist …
Das stimmt, sie besuchen zum Beispiel Elektropolis, eine elektrische Stadt, die als Satire auf den technologischen Fortschritt zu verstehen ist. Und in ihr hat Kästner schon Handys imaginiert.
Die erste Station, in die sie geraten, ist das Schlaraffenland – eine scharfe Konsumkritik, die er in ein märchenhaftes Bild verpackt.
Im Prinzip hat Kästner schon das gemacht, was Michael Ende später als Literatur für Kinder von acht bis achtundachtzig Jahren bezeichnete. Er war ein Pionier der Kinderliteratur, seine Kinderromane sind die ersten, die autonom handelnde Kinder zeigen. Bei ihm sind die Kinder den Erwachsenen oft überlegen. Die Erwachsenen versagen in vielerlei Hinsicht und die Kinder müssen dann ihre eigenen Probleme selbst lösen oder vielleicht sogar die Probleme der Erwachsenen mit. Und das war für die Zeit vollkommen unüblich. Es herrschte damals noch eine Auffassung von Kinderliteratur vor, die sehr stark pädagogisch ausgerichtet war und von oben herab funktionierte: Die Erwachsenen sind diejenigen, die alles wissen, die alles besser können und die den Kindern sagen, wie sie was am besten zu tun haben. Und Kästner dreht das komplett um.
Mit den Kindern verbindet Kästner ja auch eine große Hoffnung, oder?
Ja. Es gibt noch ein anderes Kästner-Zitat, das sinngemäß lautet: Wie können aus so netten Kindern so furchtbare Erwachsene werden? Er legt in die Kinder die Hoffnung, dass sie – wenn sie die richtigen Werte vermittelt bekommen und selbstständig darüber nachdenken, was richtig und was falsch ist – die Welt besser machen können. Kästner spricht hier als selbsternannter „Urenkel der Aufklärung“, also als Aufklärer 2.0 oder 3.0., der schon die ganzen Krisen der Aufklärung mitreflektiert und mitdenkt. Auf der einen Seite gibt es die Kinder, mit denen die Hoffnung verbunden wird, die Welt besser machen zu können, und auf der anderen Seite die Erwachsenen, die ihrerseits dabei sind, die Welt zu zerstören. Das sind so dialektische Vorstellungen, die sich in seinem Werk finden. Aber auch, dass er realistische Kinderromane schreibt wie Emil und die Detektive, und daneben eben auch einen fantasievollen oder fantastischen Kinderroman, der in der Südsee spielt, zeigt ihn als Dialektiker. Er kann beides, er will auch beides.
Das Ziel der Reise im 35. Mai ist die Südsee, über die Konrad einen Aufsatz schreiben muss. Wofür steht sie? Als geografischer Ort ist sie ja nicht gemeint.
Mit der realen Südsee hat die Kästner’sche Südsee wenig zu tun, außer dass es Palmen und Kokosnüsse gibt. Vielmehr ist sie eine Fantasiewelt wie Atlantis in den frühen romantischen Märchen, etwa in E.T.A. Hoffmanns Der goldene Topf. Die Südsee ist eine Metapher, eine Metapher für die Fantasie und ihre produktive Kraft.
Für mich ist auch eine der Kernaussagen des Buches, dass die Fantasie eine absolut gleichwertige Realität neben der Wirklichkeit ist.
Das sehe ich auch so. Das zeigen ja auch Ergebnisse der neueren medizinischen Forschung, der Neurologie. Unser Gehirn unterscheidet erst auf einer zweiten Stufe zwischen dem, was wir mit unseren Sinnen als ‚real‘ wahrnehmen und dem, was wir uns vorstellen. Das heißt, dass eine Vorstellung genauso konkret für uns sein kann wie das, was ‚real‘ passiert. Und es zeigt auch, dass wir als Menschen ungeheure Fähigkeiten haben, kreativ zu sein. Es ist jetzt kein kreativer Akt, etwas Erfundenes als real anzusehen, aber umgekehrt kann ich natürlich die Realität erweitern durch das, was ich erfinde.
Veröffentlicht am 14. Oktober 2024