„Was mich am und im Schreiben beschäftigt: die Denormalisierung dessen, was ich kenne“
In der Reihe Ein Stück Gegenwart lesen Autor:innen mit Ensemblemitgliedern aus ihren Stücken, diskutieren mit ihnen über Themen, die sie umtreiben, und erzählen, woran sie aktuell arbeiten: Dramaturgin Sonja Szillinsky im Gespräch mit Selma Kay Matter.
Sonja Szillinsky: Dein Stück Grelle Tage wird häufig beschrieben als ein Stück über die Klimakrise. Ich habe beim Lesen aber vor allem über Zeit nachgedacht – was natürlich zusammenhängt. Eine deiner Figuren ist ein 13.000 Jahre toter Hund, der aus dem Eis kommt und zu sprechen beginnt … Worüber hast du beim Schreiben am meisten nachgedacht?
Selma Kay Matter: Der Aspekt Zeit war für mich in dem Schreibprozess auf jeden Fall zentral. Ein gängiges Narrativ im sogenannten „globalen Norden“ ist ja, dass uns die Klimakatastrophe bevorsteht. Häufig werde ich bei Lesungen gefragt, ob das Stück in der Zukunft spielen würde. Faktisch ist es aber so, dass all diese Dinge bereits stattfinden; nur eben noch nicht so lange in Mitteleuropa. Ein großes künstlerisches (und auch politisches) Interesse war in diesem Zusammenhang, alles in ein Bild zu bekommen: die scheinbar voneinander entkoppelten Realitäten, Orte, Prozesse. Dazu zählt für mich auch, dass Zeiten transzendiert werden, scheinbar Zusammenhangsloses verknüpft wird, gekappte Verbindungen wiederhergestellt werden, denn: In gewisser Weise befinden wir uns in einer Krise der Beziehungen, in der global privilegierte Gruppen davon profitieren, so zu tun, als hätten ihre Handlungen und Lebensweisen keine konkreten Konsequenzen woanders auf der Welt. Das hat mich interessiert: Wie lassen sich diese angeblich komplexen und abstrakten (ökologischen) Prozesse konkret erfahrbar machen? Wie lässt sich „with-nessing“, eine von Theoretiker:innen wie Bayo Akomolafe und Bracha Ettinger geprägte Praxis, literarisch umsetzen?
Unsere Reihe zu aktueller Dramatik heißt Ein Stück Gegenwart. Was bedeutet „Gegenwart“ für dich? Was würdest du als gegenwärtig bezeichnen?
Selma Kay Matter: Oh, das ist eine große Frage. Ich denke, es geht darum, das, was ist, zu fassen zu bekommen, und mein Ansatz bei Grelle Tage war, das darüber zu versuchen, die Gegenwart als unendlich kurzen, flüchtigen Moment mit der Zukunft und der Vergangenheit, in die sie sich ständig verwandelt, zu verknüpfen.
Es gibt auch sehr humorvolle Stellen, z. B. wenn der „zerfledderte Hund“ staunend industriell verarbeitete Kieselsteine wahrnimmt. Was würden wir erkennen, wenn wir öfter mit etwas mehr Distanz auf unsere Abläufe, Routinen und Produkte blicken würden? Fehlt uns manchmal der unverstellte Blick auf all unsere Konventionen?
Selma Kay Matter: Naja, auf jeden Fall. Das ist etwas ganz Grundlegendes, was mich am und im Schreiben beschäftigt: die Denormalisierung dessen, was ich kenne. Das finde ich an Kindern so toll – dass sie alles erst mal strange und seltsam und per se zu hinterfragen finden. Und das ist aus meiner Sicht eine andauernde Aufgabe, wenn es um Machtkritik geht: das Bekannte so weit zu etwas Fremdem zu machen, dass es völlig denormalisiert wird.
Woran arbeitest du gerade? Und schreibst du aktuell allein oder im Kollektiv?
Selma Kay Matter: Gerade schreibe ich alleine an einem Essayband mit dem Titel Muskeln aus Plastik. Das sollen fünf autotheoretische Texte werden (bis jetzt habe ich drei davon fertiggeschrieben), die sich um die Schnittstelle von Queerness, chronischer Erkrankung und Behinderung drehen. Mir macht das inhaltlich und ästhetisch viel Spaß, weil ich mich in diesem Genre der Non-Fiction, das ja im Englischsprachigen generell viel freier begriffen wird, sehr selbstbestimmt bewegen kann. Das Schreiben ist aber immer irgendwie ein kollektiver Prozess bei mir; während des Prozesses bin ich in intensivem Austausch mit mir nahestehenden Autor:innen und meiner Lektorin, die Referenzen und Ideen beitragen.
Hin und wieder schreibe ich auch gemeinsam mit anderen Autor:innen, zuletzt habe ich mit Evan Tepest eine Kolumne zu inter-abled Dating in deren Kolumnenreihe für das MISSY-Magazine geschrieben. Das ist für mich total bereichernd, weil ich immer viel lerne: Beispielsweise habe ich ja kaum Erfahrung im journalistischen Schreiben und es ist toll, sich da mit einer anders ausgerichteten Person zusammenzutun. Und wir haben das natürlich auch deshalb gemacht, weil unsere Perspektiven so unterschiedlich sind.
Kannst du ein bisschen von deinen kollektiven Schreiberfahrungen erzählen?
Selma Kay Matter: Dazu gibt es so viel zu sagen! Ich denke, etwas ganz Grundlegendes ist: Zu zweit habe ich weniger Angst. In den langen gemeinsamen Schreibprozessen mit Marie Lucienne Verse habe ich sehr viel gelernt über unterschiedliche Weisen, an Texte heranzutreten, und ich habe mich getraut, viel mehr auszuprobieren, weil da noch eine andere Person war, der ich sehr vertraute und die mich gegebenen Falles auffangen konnte. Ich werde oft gefragt, wie schreiben zu zweit oder mit mehr Personen funktioniert, und man kann das gar nicht so einfach runterbrechen. Das ist so eine komplexe Frage! Aber es hat auf jeden Fall eine ganz andere Leichtigkeit und einen speziellen Flow, das kollektive Schreiben.
Am 6. Februar 2024 ist Selma Kay Matter zu Gast in der Reihe Ein Stück Gegenwart. Salon zu neuer Dramatik im noon / Foyer Kleines Haus, Beginn ist um 20 Uhr.