Was tun eigentlich unsere Regisseur*innen ...

... jetzt, wo sie nicht probieren können. Eine Nachricht von Elsa-Sophie Jach, die bei uns gerade „Die Marquise von O. ... Faster, Pussycat! Kill! Kill!“ proben würde.

Wenn die Proben ruhen, rasen die Gedanken.

Die Maßnahmen, um die Verbreitung des Corona-Virus zu stoppen, setzen uns alle vereinzelt in unseren Wohnungen fest und zwingen uns, innezuhalten. Erstmal. Da Künstler*innen in der Regel über ein gutes Maß an Phantasie und Neurotik verfügen, sind wir prädestinierte Apokalyptiker*innen. Nach einigen Tagen der Panik (Wie geht es weiter? Wer, den ich kenne, könnte sich anstecken? Hab ich mich vielleicht schon angesteckt? Wie geht es weiter mit meinen Projekten, meinen Finanzen?), darauffolgenden Tagen des Sich-im-Bett-Verkriechens und Netflix-Schauens, beginnt diese erzwungene Pause auch positive Nebenwirkungen zu zeigen. 

Ein Vermessen der eigenen kleinen Alltagslandschaft

Mein Zuhause, der Ort, an dem ich als selbstständige, durch den deutschsprachigen Theaterraum reisende Regisseurin eigentlich viel zu selten bin, bekommt Aufmerksamkeit. Ich bin hier, und ich habe Zeit. Was gefällt mir, was sollte ich ändern, was um- oder aufräumen? Das ist natürlich erstmal Kompensation, dann aber auch: das Zugeständnis, dass künstlerisches Arbeiten auch „Raum“ braucht. Ein Vermessen der eigenen kleinen Alltagslandschaft. Ich gehe mein Regal durch und habe zum ersten Mal seit langem die Zeit, Bücher um ihrer selbst willen zu lesen, nicht fürs nächste Projekt. Ocean Vuong, Ottessa Moshfegh, Rachel Cusk. Mich zu vertiefen: Eine Doku über Joan Didion zu schauen, dann einen Roman von ihr zu lesen und auch ihre Gespräche aus 40 Jahren. Dazwischen natürlich immer wieder Stunden des sinnlosen Herumtigerns, des Nichtstuns, des Nachrichtenlesens, was sagt das Robert-Koch-Institut, was sagt Christian Drosten, was sagt meine Mama. 

Wir überlegen im Team, wie man ein Ankündigungsfoto von etwas machen kann, das im Moment nur aus einem menschenleeren Probenbühnenbild, auf dem Papier und in unseren Köpfen existiert.

Was sagt unser „Pussycat“-Chat? Da steht: Harvey Weinstein - der in der ersten Probenwoche zu Enis Macis Überschreibung von Kleists „Marquise von O.“ und Russ Meyers „Faster Pussycat! Kill! Kill!“ immer wieder als Referenzfigur auftauchte - hat auch Corona. Das wünscht ihm natürlich trotz allem niemand. Enis schreibt, dass sie nach ihrem Probenbesuch an der letzten Textfassung sitzt, sie arbeitet noch ihre Eindrücke und Fetzen aus den Gesprächen mit uns allen ein. Wir überlegen im Team, wie man ein Ankündigungsfoto von etwas machen kann, das im Moment nur aus einem menschenleeren Probenbühnenbild, auf dem Papier und in unseren Köpfen existiert. 

Auch wenn natürlich jede*r für sich daran weiterdenkt, weiterarbeitet, braucht das Theater immer das Zusammenkommen: in einer Zeit, einem Raum, einer Frage

Jemand schickt GIFs von Menschen, die mit ihrem eigenen Spiegelbild anstoßen. Da sind Fotos aus der Theater-Werkstatt vom entstehenden Bühnenbild. Ein Schauspieler zitiert aus Enis’ Text: “Sunlight is the best disinfectant.“ Das stimmt zwar für Corona leider nicht, beschreibt aber die allseitig spürbare Sehnsucht: Nach einer Lösung, danach, dass es weitergeht, danach, diesem merkwürdigen viralen Würgegriff zu entkommen und sich wieder frei zu fühlen, frei, weiterzumachen, zu proben, zu suchen. Auch wenn natürlich jede*r für sich daran weiterdenkt, weiterarbeitet, braucht das Theater immer das Zusammenkommen: in einer Zeit, einem Raum, einer Frage. Ocean Vuong schreibt in seinem Roman „Auf Erden sind wir kurz grandios“: Manchmal, wenn ich mir nicht allzuviel Gedanken mache, glaube ich, dass die Wunde auch der Ort ist, wo die Haut sich wiederbegegnet und von jedem Ende wissen will: Wo bist du gewesen? Ich lese das nicht nur als Beschreibung der biografischen Zerrissenheit seiner selbst und seiner Familie infolge des Vietnamkrieges, sondern auch als künstlerisches Verfahren, das an Heiner Müllers Begriff der Wunde in der Kunst anschließt: Man arbeitet über die eigene Wunde, um politisch zu arbeiten. Vielleicht bildet in diesem Fall die Stille, das Innehalten und das Wieder-Zusammenkommen aller die Grundlage für das Umkreisen der Wunde: wir sind die Ränder der Haut, die wieder zueinander strebt.

Wird nach der Krise jede*r für sich weitermachen wie bisher oder können wir als Gesellschaft daraus lernen?

Aber von wo kommt jede*r Einzelne zurück und welche Erkenntnis nimmt sie oder er aus diesem Ausnahmezustand mit? Wird nach der Krise jede*r für sich weitermachen wie bisher oder können wir als Gesellschaft daraus lernen? COVID-19 ist grausam, weil tödlich. Der Versuch, diesem Virus zu entkommen, stellt zwangsläufig unseren Alltag infrage, unser Konsum- und unser Sozialverhalten, unser Wirtschaftssystem. Slavoj Zizek twittert, dass sich die Menschen eher das Ende des Klopapiers vorstellen können als das Ende des Kapitalismus. 

Das Universale, Unverhandelbare der Corona-Krise wirkt selber wie ein beängstigendes Science Fiction-Szenario, das plötzlich Wirklichkeit geworden ist. Sie bietet aber auch die Chance, solidarisch und global zu denken

Trotz - oder gerade wegen - der Grenzschließungen: wir erleben gerade einen Virus, der Menschen über alle Grenzen und Kontinente hinweg weltweit beschäftigt. Der Krisen verschärft, noch sichtbarer macht: Überhitzung im Alltag, Verschmutzung der Natur - plötzlich ausgesetzt. Die Vereinsamung älterer Menschen - ausgestellt durch die Frage, wie man sie jetzt schützen kann, die Infragestellung des Generationenvertrags auf die Spitze getrieben durch feierwütige Spring Break-Teilnehmer*innen in den USA. Die humanitären Notstände auf Lesbos, wo die Menschen unter ohnehin unfassbaren Bedingungen plötzlich der gleichen Bedrohung ausgesetzt sind wie wir selber, drängen die Frage auf: für wen gibt es Schutz? Wer kann sich mit Klopapier und Nudeln für drei Wochen in seine Wohnung zurückziehen und die Serie „Pandemie“ schauen, die nun in der Netflix Top Ten steht? Das Universale, Unverhandelbare der Corona-Krise wirkt selber wie ein beängstigendes Science Fiction-Szenario, das plötzlich Wirklichkeit geworden ist. Sie bietet aber auch die Chance, solidarisch und global zu denken: Die Frage nach dem „Danach“ ist genauso real wie die Krise an sich und sie wird uns, muss uns beschäftigen -  jeden*n für sich, aber vor allem, wenn es „weitergeht“, wenn wir wieder zusammenkommen, uns gemeinsam.