Was tun eigentlich unsere Regisseur*innen …
… jetzt, wo sie nicht probieren können. Paul-Georg Dittrich, dessen Inszenierung von Falstaff eigentlich hätte im März im Theater Bremen Premiere feiern sollen, über das Vexierbild da draußen.
Laut den Gebrüdern Grimm ist ein Vexierbild ein „Bild mit einem in der Zeichnung verborgenen Betrug, Scherz“. Zum Lachen ist mir ehrlich gesagt nicht zumute. Irgendetwas da draußen, hinter dem Fenster, stimmt nicht. Noch vor zwei Monaten postulierten Virologen, dass Schutzmasken keine Lösung sind; ein Monat später: Maskenpflicht in der Öffentlichkeit. Biergärten sollen demnächst wieder geöffnet werden. Um den 16. Mai herum soll auch der Fußball wieder rollen, wenn auch nur im Geister-Modus, aber es geht kaum ein Wort über die Lippen der Politiker*innen zum Thema Kunst und Kultur. Der Theaterbetrieb schlummert orientierungslos wie ein vergessener Riese irgendwo im Niemandsland. Schleichend versandet dabei der so immanente Dialog zwischen Zuschauer*innen und Künstler*innen. Online-Streaming und Zoom Video Conferencing Formate, die neuerdings wie Pilze aus dem Boden sprießen, überbieten sich größtenteils in Dilettantismus, Innovation und kapitalistischer Beschleunigung.
Blind arbeitet der gegenwärtige digitale Hype am Verschwinden des eigenen künstlerischen Mediums und verfehlt dabei vollends sein Kompensationsziel.
Userkommentare, Herzchen- und Händeklatsch-Emojis sind definitiv kein Ersatz für das einzigartige Live-Erlebnis, mit einem Publikum zusammen in einem Raum die Aufführung und den Atem geteilt zu haben und von diesem am Ende beklatscht, gefeiert oder ausgebuht zu werden. Es ist ein zutiefst analoger Vorgang, fernab von Nullen und Einsen, in dem am Ende immer auch das Gemeinschaftserlebnis selbst steht.
Und plötzlich geht es dann doch ganz schnell.
Am 6. Mai 2020 ein Lichtblick am Horizont. Die Theater dürfen unter strengster Einhaltung der Hygienevorschriften wieder öffnen, schrittweise zumindest. Laut „Handlungshilfe zum SARS-CoV-2-Arbeitsschutzstandard“ der Verwaltungs-Berufsgenossenschaft werden 6 Meter Abstand benötigt bei „singenden oder exzessiv sprechenden“ Menschen. (Neues aus dem Kuriositätenkabinett, Folge 17: „Der Fußballtrainer darf den Nasen-Mund-Schutz zum Rufen abnehmen“!) In Proberäumen sind mindestens 20 Quadratmeter Grundfläche pro gleichzeitig anwesender Personen nötig. Bläser*innen brauchen bis zu zwölf Metern Abstand zur nächsten Person in Blasrichtung, in die anderen Richtungen drei Meter. Da könnte man sich glatt die Frage stellen, ob diese „Handlungshilfe“ den Theaterbetrieb ermöglichen oder verhindern soll. (Bamberger Symphoniker untersuchen Infektionsrisiko beim Musizieren. Mit der Messung von Luftströmen haben die Bamberger Symphoniker untersucht, wie gefährlich Musizieren in der Corona-Krise ist. Nach ersten Erkenntnissen verteilen sich beim Spielen von Blasinstrumenten oder beim Singen kaum feine Tröpfchen, die Viren übertragen könnten.) Das alles macht schon ziemlich wütend. Auch weil ich von vielen freischaffenden Kolleg*innen höre, dass Absagen und Verschiebungen derzeit an der Tagesordnung stehen. Es scheint so, dass die Corona-Folgen die Theaterlandschaft noch für eine ganze Weile spürbar auf Trapp halten wird.
Aber wie jede Medaille hat auch die gegenwärtige Situation eine Kehrseite.
Jetzt entpuppen sich zum Beispiel unterschiedlichste Möglichkeiten, mit den Corona-Auflagen kreativ und vor allem zeitgemäß umzugehen. Neue Formate, extravagante Raumlösungen, ein erfrischender Umgang in Sachen Instrumentationen, Partitur-Bearbeitungen, ein reichhaltiges Einakter-Repertoire und vieles mehr sind urplötzlich denkbar. Eine neue Theatersprache kann sich herauskristallisieren.
Und damit meine ich keine Corona-Ästhetik, sondern eine Weiterentwicklung des Musiktheaters auf allen Ebenen.
Wie auch immer: Ich hoffe sehr, dass der analoge Dialog zwischen Zuschauer*in und Künstler*in wieder aufgenommen wird, weil ich finde, wir müssen dafür kämpfen, notfalls auch für fünf Menschen zu spielen. Selbst wenn die Zuschauer*innen im Theatersaal erst einmal zwei Meter Abstand zueinander halten müssten, wäre das ein großer Gewinn. Dass Menschen zusammen in einem Raum sind, sich zur Kenntnis nehmen, Rücksicht üben, kurz lächeln – und dass dann etwas gemeinsam erlebt wird.
Eigentlich trägt ja die Kolumne den Titel Was tun eigentlich unsere Regisseur*innen.
Man erwartet persönliche Einblicke, eventuelle Film- und Lektüre-Tipps und was man sonst noch so gerade macht als Regisseur*in. In der Schule würde am Ende meines Textes folgende Notiz der Lehrer*in stehen: am Thema vorbei, mangelhaft, setzen. Aber die Gedanken im Kopf lassen mir einfach keine Ruhe und rasen unerbittlich hin und her.
P.S.: Mehr denn je passen die Schlussworte der Titelfigur von Giuseppe Verdis Oper Falstaff zur gegenwärtigen gesellschaftlichen Lage: „Alles um uns ist Narrheit“.