Wenn der Ausnahmezustand Normalität ist
Wie reagiert man als Kind auf den Suizidversuch seiner Mutter? Dr. Marc Dupont, Chefarzt der Kinder- und Jugendpsychiatrie, -psychotherapie und -psychosomatik im Klinikum Bremen-Ost im Gespräch mit Dramaturgin Marianne Seidler.
Marianne Seidler: Wir spielen gerade All das Schöne, in dem ein Kind auf den Suizidversuch seiner Mutter damit reagiert, dass es eine Liste macht, mit all den Dingen, für die es sich zu leben lohnt. Es gibt die Andeutung, dass die Zuschauer:innen ihre Selbsthilfegruppe darstellen, ohne es über den Verlauf des Stückes so direkt wahrzunehmen. Dennoch zuerst die Frage, kommen zu Ihnen viele Kinder, die psychisch erkrankte Eltern haben? Die also selbst keine Erkrankung haben, aber unter der der Eltern leiden?
Marc Dupont: Ich würde immer zu allererst sagen, das Kind psychisch kranker Eltern zu sein, ist als solches keine Krankheit. Es ist eine besondere Situation, in der diese Kinder sind, und ein Risikofaktor, zumindest ein größerer als das Kind „normalneurotischer“ Eltern zu sein. Ich bin deswegen dagegen, diese Kinder sofort reflexartig beim Kinderpsychiater vorzustellen. Ich bin eher dafür, passende Beratungsstrukturen aufzubauen und präventiv zu arbeiten.
In All das Schöne bahnt sich im Erwachsenenalter bei der Protagonistin auch eine depressive Episode an. Passend zu dem, was Sie beschreiben, bleibt im Stück jedoch offen, ob sie ernsthaft erkrankt, diese Episode mit einer vererbten Depression zusammenhängt oder aus der Erfahrung der Kindheit resultiert. Damit stellt das Stück auch die direkte Kausalität in Frage.
Marc Dupont: Wir sprechen am liebsten von transgenerationaler Weitergabe. Da geht es dann um die Weitergabe als solches und nicht darum, durch was genau diese Weitergabe erfolgt ist.
Ich komme nochmal zu dem Aspekt der Gemeinschaft. Gibt es auch Orte und Gruppen für Kinder, in denen sie sich austauschen können?
Marc Dupont: Es ist spannend, dass die Zuschauer:innen im Stück zu Beginn noch nicht begreifen können, das man sie als Teil der Selbsthilfe-Gruppe der Protagonistin verstehen kann. Das heißt, es gibt eine gewisse Ungewissheit über das, was gerade passiert. Das macht für mich auf eine Weise erfahrbar, wie es den Kindern von psychisch kranken Eltern geht. Für die ist das, was sie erleben, Normalität. Dass die Mama dauernd so aufgedreht ist, das Geld zum Fenster rausschmeißt oder Liebhaber:innen hat und alles over the top zu sein scheint. Und vielleicht nur einen Tag später im Bett liegt, sich nicht mehr rührt, weint und nicht mehr einkaufen gehen kann. Das halten Kinder erstmal für Normalität. Wenn sie sehr klein sind, haben sie auch wenig Kontakt zu anderen und nicht viele Vergleichsmöglichkeiten. Irgendwann merken sie, dass es bei den anderen anders ist. So entstehen Glockenphänomene. Sie kapseln sich dann eher ab, fragen sich, was da genau anders ist und warum? Das kann schuldhaft verarbeitet werden, das kann neidvoll verarbeitet werden oder es kann sogar das Gefühl hervorrufen, dass bei uns zu Hause alles viel besser ist als da draußen. Aber diese Differenz wird eben sehr spät wahrgenommen. Deswegen ist es wichtig, möglichst früh mit den Kindern und am besten auch mit den Familien gemeinsam ins Gespräch zu kommen und die Eltern darin zu unterstützen, den Kindern zu erzählen, was mit ihnen los ist. Es gibt zum Beispiel die angeleitete Selbsthilfe-Gruppe „Kids Time“. Dort können sich Familien untereinander austauschen, die Kinder können darüber ins Gespräch kommen, warum der Papa so anders ist, können dafür eine Sprache finden. Denn Sprache ist ja das Instrument, um etwas zu verstehen. Gleichzeitig können damit auch die Eltern in eine Wirkmächtigkeit kommen und ihre Krankheit beschreiben. Das bricht auch das Sprechverbot auf, das bei diesen Erkrankungen oft herrscht. Außerdem gibt es immer Pizza! Ein gemeinsames Essen, ein Ritual.
Im Stück kann man sehen, dass dann in der Pubertät noch ein ganz anderes Gefühl zu Tage tritt. Die Wut. Selbst die Sammlung all der schönen Dinge wird zum radikalen Akt. Sie ritzt die Worte ins Baguette, schreibt sie ins Innere der Schuhe usw. Wie ist diese Wut einzuordnen? Ist sie produktiv?
Marc Dupont: Wut ist etwas Notwendiges. Wenn man sie nicht auf sich selbst richtet, ist das sicher ein konstruktiver Versuch die Wut zu kanalisieren. Das ist aber nicht leicht, denn Kinder psychisch kranker Eltern haben oft eine größere Schwierigkeit in der Affektmodulation. Es kommen drei Sachen zusammen. Die Pubertät, die Schwierigkeit generell mit Gefühlen umzugehen und die direkte Wut: Warum bist du anders als die Mama von Thomas? Oft kommt dann auch Schuld dazu, denn die gibt das Gefühl eine Situation noch kontrollieren zu können. Aber eher im Konjunktiv: Hätte ich mich nur anders verhalten, wäre das nicht passiert. Ohne ausreichend stabile Erwachsene bekommen Kinder bodenlose Angst, je kleiner sie sind, umso mehr. Wenn sie merken, der Erwachsene ist nicht so stabil, wie sie ihn bräuchten, ist es nur kurz möglich wütend auf ihn zu sein, denn die Kinder haben innerseelisch das Gefühl, dass der Erwachsene sonst ganz kaputt geht und sie denken, sie seien dann ganz allein auf der großen weiten Welt. Sie versuchen die Kontrolle über ihr eigenes Verhalten zu bekommen und damit die Mama oder den Papa zu retten, dafür zu sorgen, dass es ihnen gut geht. Das nennt man Parentifizierung.
Da trifft dann das Gefühl extremer Verantwortung auf extrem große Schuldgefühle.
Marc Dupont: Ja. Und diese Schuld führt zur Wut, aber eher zur Wut gegen sich selbst. Ich finde es gut, dass im Stück die Wut dann eher ins außen geht, das ist besonders. Gerade weil es ein Gender-Thema ist und in dem Fall eine Frau die Wut nach außen trägt. Es ist nach wie vor so, dass in den Knästen die Männer sitzen und in den Kliniken die Frauen. Das war vor dreißig Jahren vielleicht noch stärker, dennoch bleibt es bei dieser Verteilung.
Apropos Männer. Der Vater zeigt sich aber auch nicht besonders redselig oder nahbar. Hätte er eine Hilfe für die Tochter sein können in der Kindheit?
Marc Dupont: Kinder brauchen in dieser Situation, je kleiner sie sind, verlässlich immer wieder ähnliche Antworten, um zu verstehen wie die Welt und sie selbst funktionieren. Ein einfaches Beispiel: Ein Kind rennt gegen die Tischkante, es kann gerade laufen. Es schaut danach als erstes zu Mama oder Papa. Darüber findet die Einordnung statt: Wie stark hat das wehgetan? Das Kind versteht dann zum Beispiel: Oh die Mama schaut panisch, vielleicht ist wirklich was Schlimmes passiert. Wenn die Eltern überhaupt nicht reagieren, weil sie zu gedröhnt sind und auf dem Sofa liegen, dann weiß das Kind nicht was los ist, kann das eigene Erleben nicht einordnen. Eine angemessene Reaktion ist ja oft eine etwas Größere, mit deutlicher Körpersprache und Zuwendung. Wenn ich das bei Ihnen, als Erwachsene machen würde, würden Sie ja denken, der spinnt. Aber diese spielerische Ebene der Markierung, das brauchen die Kinder. Ein wenig Schauspiel steckt da auch drin. Diese Abstraktionsebene und die leichte Übertreibung versteht das Kind gut. Das muss nicht immer deutlich und ständig passieren, aber das Kind braucht solche Erfahrungen zumindest in einem ausreichenden Maß. Wenn die Reaktion auf solche kleinen Unfälle jedes Mal komplett anders ausfällt, entwickelt das Kind zum Beispiel kein gesundes Schmerzempfinden. Ähnliches passiert auch mit Gefühlsäußerungen. Mit Traurigkeit und Freude. Diese Gefühle müssen gespiegelt und validiert werden.
Wie können Außenstehende reagieren, wenn sie eine Familie im Umfeld haben, um die sie sich Sorgen machen diesbezüglich?
Marc Dupont: Diese Erkrankungen sind für das ganze Familiensystem eine hohe Belastung. Wenn Sie es dennoch schaffen, den Eltern sehr sachlich ihre Sorgen mitzuteilen, ist das schon mal ein guter Weg. Wenn Sie das Gefühl haben, es kommt zu einer Ablehnung oder es passiert nichts, dann kann man das Gespräch beim Jugendamt suchen. Da muss man nicht sofort eine Kindeswohlgefährdung anmelden, aber man kann sich dort auch anonym beraten lassen. Gerade für „Profis“ in dem System, also die Klassenlehrer:innen, Erzieher:innen, ist das eine gute erste Kontaktaufnahme. Vielleicht muss man noch wissen: Wenn man in solchen Fällen handelt, fühlt es sich oft so an, als würde man etwas falsch machen. Man muss ja quasi illoyal handeln, es beschleicht eine:n das Gefühl jemanden zu verraten. Diese Dynamik heißt nicht, dass Sie nicht das Richtige tun. Aber es ist wichtig sich darüber austauschen zu können. Mit vertrauten Menschen, Freund:innen.
Wenn Sie oder jemand in Ihrer Umgebung Hilfe zu den im Interview behandelten Themen braucht, finden Sie hier Ansprechpartner:innen: www.gesundheitnord.de/klinikum-bremen-ost/kinder-und-jugendpsychiatrie-psychotherapie-und-psychosomatik und www.familiennetz-bremen.de/veranstaltungen/kidstime
Veröffentlichung: 7.10.2021