Wenn der Glitch zur Möglichkeit wird

Vor der Premiere von Freedom Collective, das im Rahmen von NOperas! ins Kleine Haus kommt, hat Brigitte Heusinger mit Regisseur:in Heinrich Horwitz gesprochen.

Brigitte Heusinger: Du bist ein Theaterkind. 

Heinrich Horwitz: Ja, das stimmt, ich bin im Theater aufgewachsen. Meine ersten Kindheitserinnerungen überhaupt sind die weiß gemalten Gesichter, brennenden Finger, zu Berge stehenden, wirren Haare aus der Black Rider-Inszenierung von Robert Wilson am Thalia Theater 1990, in der mein Vater mitgespielt hat. Mein ganzes Leben ist von dem „Spiel“, von dem „Tun als ob“ geprägt. Natürlich konnte ich schon als Kind gut zwischen dem, was ist und dem, was sein kann, unterscheiden. Trotzdem habe ich heute noch das Gefühl, dass es nicht nur diese eine Wirklichkeit gibt. Es ist eine Lust, Dinge anders sehen zu können, dazu verführt zu werden im besten Sinne. Aber dieses Spielen, mit dem was möglich ist, hat andererseits auch viel mit meinem Widerwillen dagegen zu tun, dass wir im realen Leben eingeklemmt, kategorisiert werden und uns gesagt wird, wie wir und mit wem wir leben sollen.

Wie wir Formulare ausfüllen müssen.

Und auf welche Toiletten wir gehen sollen. Ich habe immer geglaubt, dass es eine Tür gibt, in die man geht und verschwindet. Oder man geht hinein und dann geht etwas anderes auf.

Die Tür, die aufgeht, kann das Theater sein.

Ja, das ist das Utopische am Theater. Das Theater ist für mich immer ein Möglichkeitsraum, ein Ort zum Ausprobieren von Wahrheiten oder Befragen von Wahrheiten. Wo sind die Orte in der Welt, in denen wir leben, in denen wir noch Fragen stellen dürfen und in denen wir in einen Dialog kommen? Wir müssen gerade jetzt sehr aufpassen, dass die Kulturinstitutionen genau diese Orte bleiben.

An diesen Orten machst du immersives Theater. Was ist das, was bedeutet es? 

Im immersiven Theater liegt immer auch eine Überforderung. Unsere Theatererfahrung ist: Reihe 6, Platz 42. Auf diesen Platz wird einem dann etwas zugespielt. Ich glaube, dass wir durch die Vereinzelung, die sich auch im individualisierten Kulturkonsum zeigt, in eine Form gepresst werden, in eben diesen Platz 42. Und ich glaube, die Chance des immersiven Theaters ist, dass ich Eigenverantwortung übernehme, mich im Raum selber verorte und selbstständig in ein Befragen und ins Denken komme. Wie nah will ich kommen, will ich Teil des Ganzen werden, möchte ich rumhängen, mich berieseln lassen? Durch diese Neuverortung wird plötzlich ein Möglichkeitsraum aufgemacht. Ich habe die Chance einer eigenständigen Erfahrung, die einen anderen Berührungs- und Erinnerungswert hat, weil ich mit meinem Körper und nicht nur mit meinem Geist anwesend war. Ich gehe noch einen Schritt weiter, indem ich glaube, dass auch die Räume anders belebt und befragt werden, wenn deren Betrachtung aus einer selbstgewählten Perspektive passiert. 

In was für einem immersiven Raum sind wir in Freedom Collective?

Unser Möglichkeitsraum ist ein Underground-Club namens Freedom Collective, in den wir das Publikum einladen. Michel Foucault nennt diese Orte, die außerhalb von unseren sozialgesellschaftlichen Alltäglichkeitsräumen liegen, Heterotopien. Clubs sind ja deshalb so spannend, weil sie eine andere Zeitlogik mit sich bringen und eine andere Form von Begegnung der Körper durch Dunkelheit und durch die ganz starke Setzung von Musik. 

Es gibt ein Libretto von Aleksandar Hut Kono, eine Abenteuergeschichte, in der es u. a. um Boxkämpfe, Organhandel und Medikamentenversuche geht. 

Wir sind in diesem Club, aber dieser Club ist auch eine Gamehalle. Hier gibt es vier Gamer:innen, die sich ihren eigenen Avatar schaffen, mit dem sie in ein Spiel und in die hochdramatische, virtuelle Abenteuerwelt einsteigen, die das Libretto beschreibt.

Auch die virtuelle Welt, das Internet, ist eine Heterotopie. 

Ja, eine Art „realisierte Utopie“, eine Gegenwelt zu unserer gesellschaftlichen Realität. Das Internet ist aber auch ein Ort von Diskriminierung, von Ausgrenzung und Hass – wie unser alltägliches Leben. 

Aber gleichzeitig ist das Internet auch ein Möglichkeitsraum.

In dem Moment, in dem ich mich in einen anderen Körper hineinversetzen kann, wie es ja auch im Theater passiert, wenn wir eine Rolle spielen, habe ich die Möglichkeit, eine andere Form von Körperlichkeit zu erfahren. Und deshalb kann das Internet eine Form von Euphorie kreieren, ein anderes, möglicherweise befreites Dasein. Welchen Körper kann ich für mich imaginieren? Was wünsche ich mir von dem Avatar, den ich mir erschaffe. Kann der fliegen oder unter Wasser atmen? 

Einer der Avatare, der in unserer Gamehalle auftaucht, ist nicht binär.

Diese Setzung ist für mich auch als queer feministische Aktivist:in enorm wichtig. Queer in einer Welt zu sein, in der wir immer noch marginalisiert werden, ist schmerzhaft und auch gefährlich. Das müssen wir sichtbar machen. In einer Welt, in der die Räume immer noch weiß, cis, heteronormativ, christlich geprägt sind, werden bestimmte Körper zu einem Fehler, zu einem „Glitch“, wie Legacy Russell es in ihrem Buch Glitch Feminism beschreibt. Aber genau in diesem Fehler, in der Störung liegt gleichermaßen die Chance, den determinierenden Kategorien zu entkommen und die Körper zu befreien. Und wir haben uns vorgenommen, durch die Vermischung von Virtualität und Wirklichkeit, durch das Verschwimmen der Figuren, durch ihr Aufeinanderlegen, diesen Glitch zur Möglichkeit werden zu lassen. Also, dass Körper mehrere werden, dass ich mehrere werde, dass ich Projektionsfläche werde und gleichzeitig selbstständig bin und im Raum vorkomme, das wäre unsere Utopie. 

 

 

Veröffentlicht am 25. März 2024