Wenn die Kritik fehlt: Fette Verluste

Jens Fischer, freier Kulturjournalist u.a. für die taz, Die Deutsche Bühne, Theater der Zeit und nachtkritik, über Verpasstes, Gespartes und Privates …

Wohlig die Gedanken in der eigenen Kulturblase schaukelnd, am frisch gebrühten Tee nippen, den Blick auf den Kalender wandern lassen. Mitte März bis Ende April scheint er gut, also stressverheißend gefüllt mit Aufträgen zu Kulturthemen. Schließlich ist dies auch eine Hochzeit für die Kunst und ihre Symbionten, die sie als Journalisten kritisch begleiten. Die entspannende Pi-mal-Daumen-Rechnung ergibt: Wenn alles klappt mit den Theater- und Museumsbesuchen, Recherche- und Interviewtreffen mit Künstlern, sind bis Mai die Strom-Gas-Wasser-Mietüberweisungen und Unterhaltszahlungen für die Kinder gesichert.

Auf geht’s.

  1. März. Heute Abend soll in Wilhelmshaven mit einem Stück Katja Brunners bewiesen werden: Geister sind auch nur Menschen. Also los. Zum Bremer Hauptbahnhof geradelt, in den feierabendvollen NWB-Zug gestiegen, mich vertieft in den sprachgewaltigen Wuttext übers Alter und die Abschiebehaft in den Tod, die Pflegeheime. Weniger selbstironisch, eher schon selbstsarkastisch geht es um Einsamkeit, Entwürdigung, Inkontinenz, Demenz, Krebs, die Sehnsucht nach Berührung … da piepst mein Mailbriefkasten. „Das Theater Bremen stellt mit sofortiger Wirkung bis zum 26. März den Spielbetrieb ein.“ Coronapanik? Zeigt unser Innensenator Ulrich „knallhart“ Mäurer mal wieder Kante? Meine Irritation aber wird sofort übertönt von Lautsprecheransagen der Bahn. Ab Oldenburg ist mal wieder nur ein rumpelig schleichender Schienenersatzverkehr gen Wilhelmshaven möglich. Ab in den Bus. Kurz vor knapp am Jadebusen angekommen, zur Spielstätte gejoggt. Scheue Frage: „Spielen Sie heute?“ Forsche Antwort: „Selbstverständlich.“ Ausverkauftes Haus. Ein Ü-55-Publikum, dem die verhandelten Themen als zeitnah drohende Schreckensvisionen auf der Seele brennen. Darüber mit den Sitznachbarn anschließend noch bei einem Bier diskutiert. Zurück zum Bahnhof. 1 Uhr wieder in Bremen, 2 Uhr im Bett. 7 Uhr am Schreibtisch. Homeoffice.

Endlos scheint die auf dem Monitor aufploppende Liste vom Verbot des Theaterspielbetriebs.

Träume ich einen Science-Fiction-Film von Aliens mit ihrer Corona-Armee? Schon trudelt die Nachricht ein, dass mein Text über die Wilhelmshavener Geister nicht gedruckt werden kann, weil es ja nun keine Aufführungen mehr gibt. Hoffnung tanken bei der Pressekonferenz des Tanz-Bremen-Festivals? In Lust machender Erwartung soll von dem bevorstehenden Kulturereignis gekündet werden, aber es herrscht nur beklemmende Unsicherheit bei der Vorstellung des Programms. Daheim die Mitteilung auf dem Anrufbeantworter: Ja, tut uns leid, die Premiere der Hamburger Fassung von Nora Abdel-Maksouds  Café populaire fällt morgen am Deutschen Schauspielhaus aus. Tags drauf war ich gebucht, André Previns Opernfassung von Tennessee Williams‘ Endstation Sehnsucht premierenschick in Bremerhaven zu entdecken – keine Chance, abgesagt. Ans Staatstheater Oldenburg lockte 24 Stunden später die erhofft spektakulöse Suche des Regisseurs Robert Gerloff nach des Pudels Kern und dem Kleber, der die Welt im Innersten zusammenhält – aber Goethes Faust bekommt auch keine Aufführungschance von der Politik.

Absolut nichts geht mehr auf deutschen Bühnen.

Kein Weh und Ach und auch kein Juchhe sind zu analysieren. Wehmütig schweift der Blick auf hoffnungsfroh umkringelte, neugierig hineingekritzelte, mit Fragezeichen versehene Termine:

  1. März, Lutz Hübners Willkommen, Theater Osnabrück
  2. März, Studio Braun: Coolhaze, Deutsches Schauspielhaus Hamburg
  3. März, Alle Toten fliegen hoch – Amerika, nach Joachim Meyerhoff, Altonaer Theater
  4. März, Friedrich Hebbels Judith, Schauspiel Hannover
  5. März, Bohuslav Martinů: The Greek Passion, Staatsoper Hannover
  6. März, Philipp Löhle und Abdul Abbasi über Vorurteile und Integration: Bombe!, Uraufführung, DT Göttingen
  7. März, Democrisis. (K)ein Ausweg, Uraufführung eines theatralen Computerspiels, Staatstheater Braunschweig
  8. März, Ode an die Freiheit - Ein Triptychon nach Friedrich Schiller, Thalia Theater
  9. April, Aufzeichnungen aus einem Kellerloch – nach der Erzählung von Fjodor Dostojewski, Schauspiel Hannover
  10. April, Brechts Die heilige Johanna der Schlachthöfe, Theater Bremen
  11. April, Schäfchen im Trockenen – nach dem Roman von Anke Stelling, Theater Bremen
  12. April, Lothar Trolles Hermes in der Stadt in Wilhelmshaven
  13. April: Ben Frost: Der Mordfall Halit Yozgat, Uraufführung, Schauspiel Hannover
  14. April, What the Fuck – ein „feministisches Aufklärungsstück für alle Gender“, Schauspiel Hannover
  15. April, Quai West – von Bernard-Marie Koltès, Schauspielhaus Hamburg
  16. April, Network – nach dem Film von Paddy Chayevsky, Thalia Theater
  17. April, Enis Maci: Die Marquise von O. ... − Faster Pussycat! Kill! Kill!, Uraufführung, Theater Bremen

Was für verheißende, ungenutzte, unerlöste Möglichkeiten.

Und was für ein Mangel an Bewegung plötzlich. Diese Art Kulturjournalismus hätte für die erwähnten sechs Wochen bedeutet: 240 Kilometer radeln zwischen dem Bremer Hauptbahnhof und daheim, 55 Kilometer wandern in den Theaterstädten, aber auch 52 Stunden sitzen in miefigen Zügen, Verspätungen nicht einberechnet. Der Bahn entgehen Ticketerlöse im Wert von 510 Euro. Den lokalen Überlebenshändlern fehlen ebenfalls Umsätze. Denn nicht möglich gewesen wären die März-April-Theaterbesuche ohne 15 Packungen Kekse, 10 Marzipan-Ostereier, ungezählte Brötchen- und Laugengebäcke, 20 Milchkaffee und Zeitungen, je ein Dutzend Portionen Hummus und Salat aus dem Kühlregal, 20 große Flaschen Wasser und kleine Flaschen Bier, eine fettige Schar Frikadellen, Würstchen, Pommes und Dönerspeisen sowie Äpfel fürs gesunde Gewissen. Und jetzt? Kochen wir ausführlich selbst zu Hause. Jeden Tag. Bereicherten Theatererfahrungen einst Herz und Hirn, gewinnt nun der Körper pro Woche nur ein plumpes Pfund an träger Masse hinzu. Nun denn: Wohlig die Gedanken in der Quarantäneblase schaukeln und dezent in private Aktivität übersetzen, am frisch gebrühten Tee nippen, den Blick über einen leeren Kalender wandern lassen ...