Wenn die Kritik fehlt: Musternichterkennungsdienst

Tim Schomacker über Das schweigende Mädchen und eine eigentlich geplante Wiederaufnahme.

Tim Schomacker ist freier Journalist und schreibt u. a. für nachtkritik und die Kreiszeitung. Er hat unsere Produktion Das schweigende Mädchen für das virtuelle nachtkritik-Theatertreffen nominiert und schrieb aus diesem Anlass zur eigentlich geplanten Wiederaufnahme einen Text, der wurde dann etwas anders als gedacht ...

Etwas aufzulösen, was es eigentlich gar nicht gab. Was vorher beobachtet worden war. Und sichtbar. Obwohl es das eigentlich ja gar nicht gab. Einen Flügel in eiliger Fertigkeit aufzulösen. Obzwar das Wesen, offiziell, ja flügellos gewesen war. Fehlt er nun doch. Der Flügel. Und fehlt nicht. Denn es gab ihn ja gar nicht. Offiziell. Was für eine schöne Bildlage. Gefundenes Fressen für semantik- & strukturverliebte literarische Wort- wie Mustererkennungsmaschinen. Man mag sich direkt vorstellen, wie Elfriede Jelinek überm Flügel brütet. Wie sich ihre Texte – mit der Zeit – verlängern. (Fast wie) Von selbst.

In diesen Tagen sollte Elfriede Jelineks NSU-Paraphrase Das schweigende Mädchen eigentlich letztmalig über die Bühne gehen. Hätte sollen.

Ist nun nicht. Wie vieles andere auch. Corona. Das gefräßig Leben nimmt. In sehr vieler Hinsicht. Und das zugleich – das Virus – wie ein maliziöses Kontrastmittel Routen, Abläufe und Logiken, kurz: Bauprinzipien einer einigermaßen durchglobalisierten Welt aufzeigt. Von Kapitalströmen über Klopapier und Kreuzfahrtschiffe bis zur Krankenhausfinanzierung. Man mag sich direkt vorstellen, wie Elfriede Jelinek überm Virus brütet. Wie sich ihre Texte – auch hier – verlängern. Mit der Zeit. (Und fast wie) Von selbst.

Kassel. Halle. Hanau.

So miss- & bedrohlich der Grund für die Unspielbarkeit der letzten Vorstellung des schweigenden Mädchens ist, es liegt – auf einer ganz anderen Ebene – etwas vollkommen Plausibles in dieser Unabgeschlossenheit. Und die hat mit Jelineks Text selbst und seiner (Verzeihen Sie die ultraabgedroschene Floskel an dieser Stelle!) kon-genialen In-den-Bühnenraum-Übersetzung Marco Štormans zu tun. Denn hier speist sich Dramatik derart aus der Gegenwart, dass sie, die jeweilige Gegenwart, (fast wie von selbst) den Text weiter und weiter verlängert. Kassel. Halle. Hanau. Um mal nur die Verschlagwortungsschiene unserer suchmaschinenergebenen eigenen Denk- und Sprechweisen anzutippen.

Und just in dem Moment, da man das Gefühl haben durfte, es bewege sich was, kam Corona.

Notwendige Debatten, breitöffentliche, über strukturelle Grundlagen des Rechtsterrorismus. Schnell ganz weit nach hinten gerückt in den algorhytmisierten Chronologien der nachrichtenbringenden und -herstellenden Portale. Viel zaghaft sich breiter aufstellende Solidaritäten energisch weggecheckt von der manchmal doch erschreckend bloß bis an die neu / wieder spürbare Staatsgrenze reichenden, großbuchstabierten Solidarität in pandemischen Zeiten.

Allen, die das Bedürfnis haben, in diesen zugleich globalen wie häuslichen Zeiten den Kopf aus dem inneren Klopapierregal zu nehmen, empfehle ich zweierlei: www.seebruecke.org für die äußere sowie die Platte More Than a Feeling der Goldenen Zitronen für die innere Haltung.

Genau an den Bruchkanten dieser Unfähigkeit, sich selber eine konsistente Geschichte zu schreiben, häuft sich Jelineks Text auf

Die „Geschichte des nationalsozialistischen Untergrunds zu erzählen“, schrieb Georg Seeßlen in einem Versuch über das Nach-Rechts-Rücken der politischen Kultur (habe ich seinerzeit zur Premiere des Bremer schweigenden Mädchens zitiert), „dazu ist die Gesellschaft, in der er entstand, vollkommen unfähig“. Und genau an den Bruchkanten dieser Unfähigkeit, sich selber eine konsistente Geschichte zu schreiben, häuft sich Jelineks Text auf; wie getrieben von der Satz um Satz immer noch nicht ganz eingestandenen Unfähigkeit, sich selber einen Reim drauf zu machen. Auf diesen blinden Gegenwarts-Fleck, der unschärfer wird, je fokussierter man hinschaut.

Mit der Ankündigung des Theaterabends und mit den Gründen für seine Absage haben wir nun gleich zwei gute Gründe, die Art und Weise, wie wir auf uns selbst schauen, genau zu betrachten.

Mag das Vergnügen am verqueren Wörtlichnehmen, an der bisweilen bizarren Bezügeherstellung, an der gelegentlich heißlaufenden Semantik-Schneiderei der Texte Elfriede Jelineks uns – gerade weil es sich dabei, auch, um etwas sehr Lustvolles handelt! – zu ein wenig Orientierung verhelfen in unseren zeitgenossenschaftlichen Unschärfe-Relationen.