Wenn die Kritik fehlt: Ohne Adrenalin herrscht Ruhe
Elisabeth Nehring ist freie Journalistin und Kritikerin für verschiedene Rundfunkanstalten, Printmedien und Fachzeitschriften und vermisst die Hochspannung vor der Sendung.
In diesen drei Monaten ohne Theater, ohne Tanz auf der Bühne muss ich mich oft an die Choreografie Reflections der Berliner Choreografin Isabel Schad erinnern, die auf der Drehbühne des HAU1 so etwas wie eine utopische Gemeinschaft erzeugte: Tänzerinnen und Tänzer fanden sich in loser Folge und in einem ununterbrochenen Fluss zu immer neuen Konstellationen zusammen, waren die Initiator*innen einer stetigen Wandlung, die nicht immer eindeutig erkennen ließ, wo Körper begannen, wo sie endeten. Choreografiert ohne Zentralperspektive, hätte Reflections ohne Verlust von allen Seiten gleichsam „demokratisch“ betrachtet werden können. Die Bühne wurde zum Versammlungsort einer heterogenen Gruppe von Menschen, die uns damals zeigten, was derzeit nicht möglich ist: ungezwungene physische Nähe, angstfreie, unangestrengte Berührung von Körpern. Eine Gemeinschaft in Bewegung. Bewegte Gemeinschaft.
Tanz führt uns – häufig – den Ausnahmekörper vor, aber gleichzeitig bringt er – Spiegelneuronen sei Dank! – unsere eigene sinnliche Wahrnehmung ins Schwingen.
Das fehlt nun seit Monaten – und kein Tanzvideo kann das Erlebnis ersetzen, gemeinsam mit anderen Menschen sich bewegende Körper auf der Bühne zu beobachten, in direkter Form teilzuhaben an Bewegung. Was also fehlt? Die unausgesprochenen Verabredungen zum Beispiel, die das Theater mit sich bringt: Das Teilen eines Raumes, einer gemeinsamen Situation. Die physische Versammlung des Publikums, das Treffen mit Kolleg*innen, die professionellen und manchmal auch persönlichen Gespräche davor und danach. Die Stille, wenn die Vorstellung beginnt. Die (im besten Fall) ungeteilte Aufmerksamkeit für die Präsenz von Körpern. Die eigene Neugierde, Zustimmung oder Skepsis für das, was man sieht und erlebt. Und manchmal auch: Die sich wandelnde Haltung während der Dauer einer Performance.
Keine Arbeit unter Hochspannung mehr.
Drei Monate ohne Theater heißt in meinem Fall als Tanzkritikerin, die ihre Rezensionen häufig als spätabendliche Livegespräche im Radio direkt im Anschluss an die Vorstellung führt, auch: Keine Arbeit unter Hochspannung mehr. Keine Eintaktung in den zielgerichteten Aufmerksamkeitsmodus auf dem Weg ins Theater, kein sofortiges Verlassen der Aufführung direkt nach dem Schlussapplaus. Keine Eile, zu 23 Uhr ins Studio oder ans Telefon zu kommen. Keine verknappte Zeit, um die Sendung vorzubereiten, keine sechs Minuten, um meinen Hörer*innen zu erklären, was ich gesehen habe und wie ich darauf reflektiere. Kein Nachlassen der Anspannung nach dem Live-Gespräch und die ewigen Fragen auf dem Weg nach Hause: Habe ich etwas Wichtiges vergessen, etwas Fundamentales übersehen? Werde ich meine eigene Einschätzung morgen noch teilen?
Jetzt: Ruhe
Wo in „normalen Zeiten“ Adrenalin durch meinen Körper schießt, mein Geist um die Übersetzung von Bewegung in Sprache ringt und sich für ein paar verdichtete Stunden vollkommen auf Vorgänge wie Wahrnehmung, Interpretation, Einschätzung, Verbalisierung und Strukturierung fokussiert, herrscht jetzt: Ruhe. Und Sehnsucht nach der Selbstverständlichkeit von körperlicher Nähe und gemeinschaftlicher Bewegung, an der uns Isabel Schad in Reflections hat teilnehmen lassen.