„Wenn du erst mal in den Ruf gerätst, kompliziert zu sein, spricht sich das schnell herum.“

Im Mai dieses Jahres sendete das Schweizer Fernsehen SRF die Dokumentation Machtmissbrauch in der Oper, Sängerinnen erheben ihre Stimme. Bekannte Schweizer Künstlerinnen erzählen darin von ungewollten Küssen, intimen Nacktszenen, verbalen Bloßstellungen – und der Angst, das Schweigen zu brechen. Eine Protagonistin des Films ist Marysol Schalit, langjähriges Ensemblemitglied des Theater Bremen. Im Gespräch mit Dramaturgin Brigitte Heusinger erzählt sie von ihren wechselhaften Gefühlen während des Drehs und den vielen unterschiedlichen Reaktionen auf den Film.

Marysol Schalit hatte Zweifel, als die Regisseurin der Reportage sie anfragte: „Ich kam zurück in die Schweiz, war erst seit kurzer Zeit freischaffend und hatte schon Angst, dass die Doku mir schaden könnte. Nach kurzer Bedenkzeit war mir aber klar, dass ich die einmalige Chance bekam, etwas für mich zu tun, für das ganze Business oder für alle Solist:innen, denen es schwerfällt, für sich selber einzustehen. Es war mir einfach wichtig, hinzustehen, auch wenn ich dadurch ein Engagement verlieren sollte. Vor allem wollte ich das Schweigen brechen.“ 

Im Film berichtet sie von körperlichen Grenzüberschreitungen, aber auch von fehlender Humanität und Psychoterror. 

Es betraf auch Bremer Zeiten. Die physischen Übergriffe liegen weit über ein Jahrzehnt zurück, doch Situationen, in denen sie sich bloßgestellt und gedemütigt gefühlt hat, gab es auch in jüngerer Vergangenheit. Gemeinsam mit ihr sind wir dabei, darüber zu reden und die Vorfälle aufzuarbeiten. „Würdest du sagen, dass die Diskussion sich ein wenig verschiebt, vom sexuellen Missbrauch, der bisher im Zentrum stand, zu Machtmissbrauch?“, frage ich sie. Sie bejaht. Beides müsse gesehen werden, für sie seien der mentale Übergriff, die psychische Gewalt, die subtilen Machtspielchen ebenso perfide wie die körperliche Grenzüberschreitung. Marysol war in vielen Produktionen, sie waren überwiegend angenehm und gerade in Bremen empfand sie das Klima meist als gut, produktiv und solidarisch.

Und es gibt gerade ein Umdenken, das Theater Bremen – wie viele andere Theater auch – folgt einem selbstauferlegtem Verhaltenskodex. 

Doch leider gehört machtmissbräuchliches Verhalten nicht nur der Vergangenheit an. Groteskerweise war auch die Schweizer Produktion, bei der Marysol während des Filmdrehs engagiert war, nicht frei davon. Ein zweifacher Druck. In der Produktion überleben, die Premiere schaffen, den Filmdreh hinkriegen und sich selbst nicht verleugnen: „Das Singen ist etwas, bei dem du dich komplett nackt machst. Du bist extrem verletzlich und musst immer schauen, dass du stabil bleibst, damit du überhaupt funktionieren und singen kannst.“ 

Was Marysol am meisten beklagt, ist, wenn die Ressourcen der Sänger:innen nicht ausgeschöpft werden und die Arbeit mit Regisseur:innen und Dirigent:innen nicht auf Augenhöhe geschieht.

„Natürlich geht es immer auch um das Konzept und die Ideen der Regie oder der musikalischen Leitung, aber wir Sänger:innen bringen unsere Persönlichkeit, unsere berufliche und auch unsere Lebenserfahrung mit. Wenn wir Figuren spielen, hauchen wir ihnen Leben ein und wir nehmen unsere Persönlichkeiten mit, wir spalten uns nicht ab. Wir sind Menschen, keine Marionetten. Wenn Wertschätzung und Vertrauen fehlen, und versucht wird, uns umzumodeln, fühlt sich das extrem unangenehm an. Es ist so, als würden uns unsere Flügel gestutzt. Ich lebe sehr von meiner szenischen Intuition, die eine meiner Stärken ist, und mag Regisseur:innen, die uns auf respektvolle Art aus der Komfortzone holen. Aber wenn wir andauernd beschnitten, unterbrochen und in jedem Atemzug korrigiert werden, macht das uns und das Ergebnis einfach schlechter.“

Und es gibt eben auch Regieanweisungen, die in die Intimsphäre eingreifen oder sich unorganisch anfühlen. 

Hier müsse man sich wehren und Grenzen ziehen. „Aber viele von uns wissen nicht, wie sie reagieren sollen und verfallen in eine Art Starre, denn wir stehen ja immer in Abhängigkeit. Es gibt die Angst, sich zu wehren, denn hinter einem steht immer der oder die nächste, die den Job um alles in der Welt klaglos machen möchte. Wir sind ersetzbar. Und wenn du erst mal in den Ruf gerätst, kompliziert zu sein, spricht sich das schnell herum. Deshalb wird geschwiegen. Und selbst, wenn nicht geschwiegen und sich an die Leitung gewandt wird, kann es sehr gut sein, dass man nicht ernst genommen wird und die Dinge im Sande verlaufen.“ Sänger:innen werden musikalisch und gesangstechnisch ausgebildet, aber was der Beruf an psychischem Rüstzeug braucht, bleibt unerwähnt:

„Ich hatte null Ahnung, was es bedeutet, an ein Theater zu gehen. Keiner hat dich darauf vorbereitet, wie du dich innerhalb des doch sehr hierarchischen Gefüges bewegen sollst, was deine Rechte sind und wann du wirklich ‚Stopp‘ sagen solltest.“ 

„Extrem, wirklich krass, überfordernd, eine richtige Welle der Dankbarkeit “, beschreibt Marysol die Reaktionen auf den Film. 99 Prozent seien positiv gewesen, für sie eine große Erleichterung, „denn ich hatte wirklich Angst am Tag der Ausstrahlung“. Es kamen Nachrichten ganz unterschiedlicher Natur, nicht nur von Sänger:innen, sondern auch von Dirigenten und Musiker:innen. Manche wollten sich austauschen, viele hatten von sexuellen Übergriffen zu berichten, fast alle von Psychomachtspielchen auf mentaler Ebene. Und andere wollte selbstkritisch ihre eigene Machtposition reflektieren. „Und wie haben die anderen Theater reagiert?“, frage ich. „Offen geredet hat kaum einer, aber ich habe Äußerungen kolportiert bekommen wie ‚entweder macht man mit oder nicht‘ oder ‚so läuft eben das Business‘. Aber das Business läuft eben nicht so.“ 

Sie selbst empfindet ihre Mitwirkung im Nachhinein als Befreiungsschlag. 

„Ich glaube, ich habe so etwas wie ein Gelübde abgelegt durch den Film. Ein öffentliches Gelübde, dass ich immer versuche, mir treu zu bleiben und auf jede Form von Übergriff zu reagieren und ihn anzusprechen. Es ist eigentlich das Größte, was ich jemals für mich getan habe. Wir müssen als Darsteller:innen aktiv werden und auch selber dafür sorgen, dass gut mit uns umgegangen wird. Wir haben Verantwortung. Denn, vieles, was passiert, passiert ja nicht aus Boshaftigkeit, sondern aus Druck. Fehler können passieren, das ist menschlich und doch keine Entschuldung. Die Angst war unser größter Feind, aber damit soll jetzt Schluss sein.“

 

 

Veröffentlicht am 22. November 2024