„Wenn man die Festlegung der eigenen Identität nicht anderen überlassen will, muss man sie in die eigenen Hände nehmen.“
Cihan Acars Debütroman Hawaii kommt auf die Bühne im Kleinen Haus. Dramaturgin Elif Zengin hat den Autor interviewt.
Cihan, du bist Autor und Fußballfan, du schreibst über Fußball und hast ja auch das Buch 111 Gründe, Galatasaray zu lieben verfasst. In deinem Debütroman Hawaii erzählst du von Kemal Arslan, einem jungen Ex-Fußballstar. Suchst du explizit nach einer Verbindung zwischen dem Schreiben und Fußball?
Cihan Acar: Ich war mir in der Anfangszeit meines Schreibens nicht sicher, welche Form am besten zu mir passt, und habe verschiedene Richtungen ausprobiert. Darunter waren Blogtexte, journalistische Texte, Drehbücher und erste Prosa-Versuche. Dabei ging es oft auch um Fußball, der für mich schon in der Kindheit sehr wichtig war. Die Vertrautheit des Themas hat mir den Einstieg erleichtert. Mir war aber früh klar, dass der Sport nicht mein Hauptinhalt bleiben wird, weil es zu viele Themen darüber hinaus gibt, die mich interessieren. Deshalb ist es im Roman ähnlich angelegt. Für Kemal war und ist Fußball sehr wichtig, nach einem Unfall und dem frühen Ende der Karriere muss er sich aber auf die Suche nach neuen Zielen machen.
Im Rahmen der Lesereihe Erzählte Identität befrage ich gemeinsam mit Abiturient:innen Autor:innen wie z.B. Olga Grjasnowa und Saša Stanišić zu ihren Romanen Der Russe ist einer, der Birken liebt und Herkunft. Dabei kommt oft die Frage auf, was Identität ist und wie davon erzählt werden kann. Wie denkst du darüber in Bezug auf Kemal, seinen „Jungs“ und seiner Hood Hawaii?
Kemal wird ständig aufgrund seines Aussehens, seiner Herkunft, seines Wohnorts oder seiner Vergangenheit von anderen in Schubladen gesteckt, in die er nicht passt, und in die er nicht will. Das wird dadurch verstärkt, dass er jemand ist, der sich in verschiedenen Milieus und Gruppen bewegt. Dadurch hat er mit umso mehr Vorurteilen zu tun, denen er entsprechen soll. Aber Identität sollte etwas sein, das jede Person für sich selbst entdecken und formen kann, ohne dass es ihr von außen aufgezwungen wird. Und das kann man manchmal eben etwas länger dauern. Der Begriff Identität steht also für ein vielschichtiges, dynamisches Konstrukt, und das macht ihn zu einem interessanten Gegenstand von Geschichten.
Der Kampf um Identität, Nationalität und Zugehörigkeit durchzieht eigentlich den gesamten Roman: vom Alltagsrassismus über Nationalismus bis zu gewaltvollen Ausschreitungen zwischen Rechtsextremist:innen und Kankas, eine radikale Gruppe aus migrantisierten Menschen. In Anbetracht des Rechtsrucks und der aktuellen Aufnahmen aus Sylt, in denen junge Menschen Rechtsparolen besingen, welche politische Dimension hat der Roman heute für dich?
Das, was man Rechtsruck nennt, ist keine plötzliche Bewegung, sondern das Ergebnis einer schleichenden Entwicklung. Als ich den Roman zu schreiben begann, war es schon so, dass plötzlich öffentlich Dinge geäußert wurden, die man vorher nicht zu hören bekam. Das habe ich von Anfang an als Gefahr wahrgenommen. Deshalb gibt es in der Geschichte eine rechte Gruppierung, die anfangs nicht ernst genommen wird, im Hintergrund zur Bedrohung anwächst, und am Ende Gewalt und Eskalation auslöst. Mir war beim Schreiben klar, dass manche der Szenen gegen Ende drastisch und erzählerisch riskant waren. Aber das war eine bewusste Entscheidung und sollte im übertragenen Sinn zeigen, was passieren kann, wenn Menschen, die auf Hass, Hetze und Ausgrenzung aus sind, in der Mitte der Gesellschaft ankommen. Diese Gefahr ist heute noch viel näher und realer als damals.
Kemal meint, er sei „ein Niemand ohne Geld, ohne Job, ohne Aufgabe. Ohne Sina, ohne Sinn.“ Er hadert mit sich und jede:r andere hat für ihn eine Kritik und / oder einen Ratschlag parat. Was zeichnet den äußeren Druck und seine tiefe Sehnsucht aus? Wie bestimmen sie sein Denken, Fühlen und Verhalten?
Kemal ist die ganze Geschichte hindurch auf der Suche nach etwas, ohne selbst genau zu wissen, was es ist. Am ehesten lässt es sich als Orientierung beschreiben. Er hat große Enttäuschungen hinter sich und braucht danach etwas, das ihm Halt und Sicherheit gibt. Die angesprochene Stelle ist für ihn ein persönlicher Tiefpunkt, an dem er sich völlig verloren fühlt. Das liegt teilweise an eigenen Fehlern, aber auch an den Erwartungen und dem Druck, den andere auf ihn ausüben. Je mehr er mit solchen Erwartungen konfrontiert wird, umso klarer wird ihm, dass er sich von ihnen lösen muss. Diese Erkenntnis allein ist schon ein wichtiger Schritt für ihn. Wenn man die Festlegung der eigenen Identität nicht anderen überlassen will, muss man sie in die eigenen Hände nehmen.
Veröffentlicht am 10. Juni 2024