Werkstattbericht: ICH BIN CARMEN und das ist kein Liebeslied

Gemeinsam mit seiner aus dem Iran stammenden Frau Hasti Molavian hat der Opernregisseur Paul-Georg Dittrich ein interkulturelles Projekt zum Carmen-Mythos ins Leben gerufen. In der Zeitschrift Die Deutsche Bühne sind dazu vier Werkstattberichte erschienen, die wir hier zweitabdrucken dürfen. In Teil 1, der im Dezember 2020 erschien, schreibt die Mezzosopranistin über ihre Jugend in Teheran und ihre Beziehung zur Carmen-Figur.

Die Uraufführung am Theater Bremen wurde wegen Corona zunächst verschoben und findet jetzt am 19. November 2021 statt.

Eines möchte ich von vornherein klarstellen: Wenn man in Teheran leben will, muss man lügen. Das hat nichts mit Moral zu tun; in Teheran lügt man, um zu überleben. Die Notwendigkeit, sich zu verstellen, ist überraschend egalitär verteilt. Sie existiert über alle Klassenschranken hinweg, und es gibt keine religiösen Unterschiede, wenn es um Lug und Trug geht. Einige der frömmsten, rechtschaffensten Teheraner sind am begabtesten und raffiniertesten in der Kunst der Täuschung. Wir Teheraner sind meisterhaft darin, die Wahrheit zu manipulieren. Kleinkinder werden dazu angehalten, zu leugnen, dass ihr Vater Alkohol im Haus hat; Teenager schwören feierlich, dass sie noch unberührt sind; Ladeninhaber gestatten ihren Kunden, während der Fastenzeit im Hinterzimmer heimlich zu essen, zu trinken und zu rauchen; und junge Männer, die sich anlässlich des religiösen Feiertags Aschura selbst geißeln, behaupten, dass jeder Peitschenhieb für Imam Hussein sei, während es in Wahrheit ein Machogehabe ist, das junge Mädchen beeindrucken soll, die wiederum vorgeben, sie seien nur dabei, um Gott zu dienen. All diese Lügen bringen neue Lügen hervor, die in jeder Nische der Gesellschaft wuchern wie Pilze. Die Wahrheit ist zu einem Geheimnis geworden, einem seltenen und gefährlichen Handelsgut, das äußerst wertvoll ist und mit großer Vorsicht behandelt werden muss.

Gedichtstrophen aus As¯ır (Gefangen)
Dich, dich, begehre ich; ich weiß, dass ich dich nie
Nach Herzenslust in meinen Armen halten werde
Du bist für mich das helle, klare Himmelszelt
Ich aber ein gefangener Vogel auf der Erde

Meine Eltern besaßen einen alten Kassettenrekorder von Sony, batteriebetrieben, weil wir damals in der Wüste keinen Strom hatten. Ich habe mir darauf immer und immer wieder klassische Musik angehört. Dabei tanzte ich durch die Küche und dirigierte die Zimmerpflanzen. Eine Orchidee wurde zu meinem 1. Geiger, die wilden Tulpen zum Schlagwerk, der Maulbeerbaum zu den Holzbläsern, und ich natürlich war die Dirigentin. Es kam dabei nicht selten vor, dass die Aufnahmen leierten. Diese defekten Stellen überschrieb ich mittels Record-Taste und eingebautem Mikrophon auf dem Kassettenrekorder mit meinen eigenen gesanglichen Improvisationen. Ich dachte, wenn man ein Orchester dirigiert, darf man den gesamten Orchesterklang führen, diesen gestalten und ihn in dem Moment des Erklingens für sich besitzen. Die Dirigentin als Sinnbild von Freiheit, die sich eine neue Welt kreiert und aus ihrer individuellen Realität ausbricht.

Ich schaue traurig, staunend auf dein Angesicht
Die hinter kalten Gitterstäben ich gefangen bin
Ich träume, einmal käme eine große Hand
Und ich wär plötzlich frei und flöge zu dir hin

Georges Bizet entwirft in seiner Oper Carmen ein archetypisches Bild von einer Spielerin, einer Verführerin aller Sinne, einer männermordenden Femme fatale. Dieses tief ins musikkulturelle Gedächtnis eingebrannte Klischee wollen wir hinterfragen. Wir dekonstruieren spielerisch den legendären Carmen-Mythos, suchen nach Pentimenti im farbsaturierten Abziehbild einer „verruchten Zigeunerin“ und einer exotischen Pflanze aus „Tausendundeiner Nacht“. Carmen als eine Projektionsfläche für „begehrende Männer“ war gestern, heute ist sie eine Emanzipierte, eine „Femme revoltée“, eine Frau, deren oberstes Gebot Freiheit heißt und die aufbegehrt gegen die herrschenden Machtstrukturen. Ganz gleich, ob sich ihr Widerstand gegen Fabrikbesitzer, besitzergreifende Männer oder restriktive Gesellschaftsstrukturen richtet.

Ich träume vom Moment der Unaufmerksamkeit
In dem ich meine beiden Flügel weit ausbreite
Dann lach ich über den Gefängniswärter und
Aus diesem dunklen Käfig flieg ich dir zur Seite

Nach der Revolution 1978 im Iran wurden alle Kulturorganisationen aufgelöst. Kunst jeglicher Art wurde verboten. Elf Jahre später wurde ich in diesem „Land ohne Musik“ geboren, und wiederum sieben Jahre darauf begann ich mit dem Erlernen des Instruments Geige. Ich werde nie vergessen, wie ich jeden Mittwoch meinen Geigenkasten in einem blauen Müllsack versteckte, um damit von der Sittenpolizei unbehelligt zum Unterricht zu gelangen. Mein damaliger Lehrer empfahl mir zudem, ein Handtuch unter den Steg meiner Geige zu wickeln. Das sollte als akustischer Dämpfer dienen. So wurde die Geige zu meinem ersten künstlerischen Ausdrucksmittel, das von Beginn an mundtot war.

In diesem schönen Traum weiß ich, dass ich das Glück
Dem Käfig zu entfliehen, niemals erleben werde
Selbst wenn der Wärter mich fortließe, wäre ich
Zu schwach für einen Flug hoch über diese Erde

In der Figur der Carmen zeichnet sich ein Frauenschicksal voller Träume, Ängste, vernarbter Vergangenheit ab, das uns hinter die poröse Fassade von Kastagnetten und Tabakrauch schauen lässt. Dabei entdecken wir eine Rastlose, die endlich ankommen will. Ach, in ihrer Brust wohnen zwei Seelen. Und Don José ist ein Teil davon. Er personifiziert das Gefühl von Heimat, Tradition und Familie, und ihre (selbst-)zerstörerische Liebe zu ihm beschreibt Carmens eigentliche Sehnsucht nach einem anderen Lebensentwurf.

Hinter den Gitterstäben lächelt jeden Morgen
Ein Kind und wirft mir seinen frohen Blicke zu
Und wenn ich dann mein helles Morgenlied anstimme
Spitzt seine Lippen es zu einem Kuss im Nu

Mit acht Jahren erlebte ich meine erste Theatervorstellung: Antigone von Sophokles. Im Mittelpunkt eine starke Frau, eine Geschichte vom Widerstand einer Einzelnen gegen autoritäre Staatsgewalt. Ab diesem Zeitpunkt stand für mich fest, dass ich auf die Bühne wollte. Ich begann in einem Teheraner Chor zu singen. Dort konnte ich als junges Mädchen im Chorkollektiv problemlos untertauchen. Und in Konzerten, in denen ich ein Solo sang, arrangierte der Chorleiter die anderen Chormitglieder so, dass alle ihre Lippen synchron zu meiner Stimme bewegen sollten. Zu dieser Zeit lernte ich den Gesangsprofessor Ulf Bästlein aus Österreich kennen, der mir empfahl, Operngesang im Ausland zu studieren. In meiner Vorstellung war Oper die perfekte Kunstform, in der alles zusammenkommt: die Unendlichkeit der Musik, die Kraft des Darstellens, die Sprache, das Bildnerische und schlussendlich der Gesang, der den Menschen unmittelbar und unausweichlich berühren kann.

Und wenn es mir, o Himmel, eines Tages gelänge
Auf und davon zu fliegen, weg von diesem dunklen Ort
Was könnte ich dem Kind in seiner Trauer sagen:
„Denk nicht mehr an den kleinen Vogel; er ist fort?“

Beide Bizet-Figuren könnten unterschiedlicher nicht sein. Carmen strebt nach vorne, Richtung Zukunft, der Blick von Don José ist in die Vergangenheit gerichtet. Diese Bipolarität greifen wir auf, indem wir beide Figuren – Carmen und Don José – zu einem zentralen Charakter verweben. So entsteht ein Zweikampf – ausgetragen in einer Person – zwischen zwei ungleichen Lebensentwürfen, angetrieben von einem immensen Freiheits- und Selbstbestimmungsdrang, der ebenso aussichtslos scheint wie die Situation eines Bullen beim Stierkampf. So verwandelt sich der Stierkampf zum Sinnbild, zur arenahaften Metapher für das Duell zwischen Carmen (die in die Fremde Ausgezogene) und Don José (der Heimatverbundene). Der Stierkampf (spanisch: Corrida) ist somit als ein Gleichnis zu verstehen, das von der Vergeblichkeit des Aufbegehrens, der Unmöglichkeit von Freiheit handelt, ein Lehrstück in Form einer intimen Tragödie, die von Macht, Träumen, Verlust, Widerstand und Tod erzählt.

Ich bin die Kerze, die sich leuchtend selbst verzehrt
Und durch ihr warmes Licht die Finsternis erhellt
Und wenn ich mich entschlösse, lieber nicht zu brennen
Erfüllte tiefes Dunkel seine kleine Welt

Heute bin ich eine Heimatlose, da ich sowohl in meiner Heimat als auch in Deutschland als eine exotische Pflanze angesehen werde. Eine Fremde allerorts. Mein Name ist Hasti Molavian, ich bin Mezzosopranistin, und ich habe vor dreizehn Jahren meine Heimat verlassen, um meinen Traum, Opernsängerin zu sein, in Deutschland zu verwirklichen. Musik ist mein Leben. Leben ist Selbstbestimmung, und niemand soll mir mehr vorschreiben dürfen, wie ich zu leben habe, noch, was Musik ist.

Unsere Autorin Hasti Molavian:
Geboren 1988 in Teheran, Gesangsstudium bei Rachel Robins an der Folkwang Universität der Künste Essen, 2011 bis 2015 Mitglied des Opernstudios der Oper Dortmund, Intensive Beschäftigung mit zeitgenössischer Musik, Mitwirkung in Samir Odeh-Tamimis Leila und Madschnun (Ruhrtriennale 2010), Carl Orffs Prometheus (Ruhrtriennale 2012) und Helmut Lachenmanns Mädchen mit den Schwefelhölzern (Ruhrtriennale 2013), 2015 bis 2020 Ensemblemitglied am Theater Bielefeld, ab 2020 Ensemblemitglied am Volkstheater Wien.

Gedichtstrophen aus As¯ır (Gefangen, Sammlung von 44 Gedichten, 1955) von Forugh Farrochza¯d (1934–1967)

Erschienen in Die Deutsche Bühne, Dezember 2020, zur Ausgabe geht es hier.