Biographie ist ein vernarbter Körper

Gemeinsam mit seiner aus dem Iran stammenden Frau Hasti Molavian hat der Opernregisseur Paul-Georg Dittrich ein interkulturelles Projekt zum Carmen-Mythos ins Leben gerufen. In der Zeitschrift Die Deutsche Bühne sind dazu vier Werkstattberichte erschienen, die wir hier zweitabdrucken dürfen. In Teil 2 unseres Werkstattberichts, der im Januar 2021 in der Deutschen Bühne erschienen ist, gibt Paul-Georg Dittrich Einblick in sein dramaturgisches Konzept.

Die Uraufführung am Theater Bremen wurde wegen Corona zunächst verschoben und findet jetzt am 19. November 2021 statt.

  1. Akt. Ein Platz in Sevilla. Rechts der Eingang zu einer Tabakfabrik, links das Gebäude der Hauptwache, im Hintergrund eine gangbare Brücke. Beim Aufgehen des Vorhangs erblickt man eine Gruppe Soldaten, Dragoner vom Regiment Almanza, vor der Hauptwache. Die einen sitzend und rauchend, andere über die Balustrade der Wache gelehnt. Lebhafte Bewegung von Passanten auf dem Platz. (Regieanweisung aus „Carmen“ von Georges Bizet)

Ich schreibe dich. Ich schreibe nicht dir, nicht an dich, nein, ich sollte vielmehr sagen: Ich schreibe dich. Ich übermale dein Gesicht mit meinen Träumereien, gebe meine Lügen dazu, alles, was mich trösten kann. Auf der Suche nach deinen Augen tauche ich meine Hände in Farbtöpfe. Ich tunke dich in einen Sud aus Wunschvorstellungen und Angst und ziehe dich wieder heraus, gereinigt, erhaben, verwandelt. Ich möchte dich endlos auspressen, damit du niemals sterben musst. Ich lege dich auf meinen Schreibtisch und nehme dich auseinander. Ich öffne deine Arme, die Beine, hebe deine Brüste an und wühle in deinem Bauch herum, um hinter mein Geheimnis zu kommen.

Das Musiktheaterprojekt Ich bin Carmen und das ist kein Liebeslied ist eine zeitgenössische Überschreibung der weltbekannten Komposition von Georges Bizet. Im Zentrum steht die Biographie der iranischen Mezzosopranistin Hasti Molavian. In ihr verdichtet sich ein fortwährender Dualismus zweier Welten, der persischen (Heimat) und der westeuropäischen (Fremde). Diese Dialektik treiben wir auf die Spitze, indem wir beide Hauptfiguren aus der Oper – Carmen und Don José – zu einem zentralen Charakter verweben. So entsteht ein Zweikampf, ausgetragen in einer Person, zwischen zwei ungleichen Lebensentwürfen, angetrieben von einem immensen Freiheits- und Selbstbestimmungsdrang, der ebenso aussichtslos scheint wie die Situation eines Bullen beim Stierkampf in der Arena.

Aus der stofflichen Symbiose von Fiktion und Realität kristallisiert sich eine neue dramaturgische Grundstruktur heraus, in der die populären Einzelnummern der Oper von Georges Bizet neu angeordnet werden und entscheidend auf die Befragung des Freiheits-Begriffes der Protagonistin reagieren. Ferner werden Themenfelder wie Heimat als Unort, das Sich-Loslösen von gesellschaftlichen Zuschreibungen und Fragen der Zugehörigkeit unter die Lupe genommen: Wo komme ich her? Wo gehe ich hin? Biographie entpuppt sich auf diese Weise als vernarbter Körper, und die eigene Identität macht einen schwindelerregenden Seiltanz auf den Ländergrenzen.

  1. Akt. Sevilla. Im Hintergrund die Mauern einer alten Arena. Der Eingang der Arena wird durch einen Vorhang abgeschlossen. Es ist der Tag des Stierkampfes. (Regieanweisung aus „Carmen“ von Georges Bizet)

Das Gemälde Der Tod des Sardanapal von Eugène Delacroix: Auf einem Bett ruhend, um sich herum Kostbarkeiten und Tand angehäuft, betrachtet Sardanapal mit Gleichmut, wie in dem Zimmer alles Leben ausgelöscht wird. Diener ermorden seine Konkubinen, ein Mundschenk steht an seiner Seite, er hält ein Tablett mit einer Karaffe, in der sich Gift befindet. Im Hintergrund züngeln bereits die ersten Flammen. Seinem Araberpferd, geschmückt wie eine Frau mit Perlen und Zöpfen, wird von einem Diener ein Messer in die Brust gestoßen. / Die Frauen von Algier, ein anderes Gemälde des französischen Malers: Grazien aus „Tausendundeiner Nacht“, die sich lasziv auf einem Divan räkeln. „So stellt ihr euch die iranische Frau vor, nicht wahr?“ – Ich bin ein Gemälde von Delacroix!

Wir begreifen die Oper von Bizet mit ihren bekannten Melodien als Topos, als äußerst populären Klang-Block, aus dem wir Stücke, wie in einem Steinbruch, herauslösen. Es geht nicht um eine vollständige Wiedergabe der Oper Carmen im Sinne Bizets oder der Tradition einer sogenannten klassischen „Werktreue“. Die Auswahl der Einzelstücke ergibt sich aus der Auseinandersetzung mit der Grundidee des Projektes. Nummern des Originals werden in Gänze, in Teilen oder auch in Fragmenten herangezogen. Einzelfragmente wiederum werden mit Live-Elektronik zu Collagen vergrößert. Das „Chanson Bohème“ im zweiten Akt beispielsweise transformiert sich nach und nach in arabischen Elektro-Chaabi. Nicht nur auf klanglicher Ebene, sondern auch in den unterschiedlichen Narrativen werden Parallelitäten gesucht, Kontraste gestärkt und „Crossover“-Momente geschaffen. Neben biographischen Texten aus der Feder von Hasti Molavian setzt sich das Skript von Ich bin Carmen aus Librettofragmenten von Henri Meilhac und Ludovic Halévy, ausgewählten Passagen aus der gleichnamigenNovelle von Prosper Mérimée und Auszügen aus dem persischen Nationalepos Schahname von Ferdausi zusammen. Außerdem vervollständigen persische Märchen von gestern und heute sowie die Film- und Drehbuchwelten des iranischen Regisseurs Abbas Kiarostami das Material.

  1. Akt. Schenke des Lillas Pastia. Abend. (Regieanweisung aus „Carmen“ von Georges Bizet)

„Die Liebe zur Wahrheit, die du heute hegst,
wird dich niemals verlassen.
Deine Freuden und Leiden auf diesem beschwerlichen Pfad
werden deinen verschlissenen Schleier lüften
wie einen Vorhang, der sich von einer Bühne hebt.
Und gewiss dein herrliches Ich enthüllen.“
(Hafis, persischer Dichter)

Zu I. Gesellschaftliche Zwänge

Die Protagonistin erschafft und zerstört im gleichen Atemzuge, mit Hilfe von Live-Elektronik (per Loop-Station und Harmonizer-Effekt werden nur durch eine Sängerin Bizet-Chöre, neu arrangiert, zum Leben erweckt), Gesellschaftsbilder aus der Oper Carmen. Hierbei liegt der Fokus auf den populären Massenszenen im 1. Akt des Originals, die assoziativ auf zeitlose Gesellschaftskrankheiten verweisen: Der sirenenhafte Gesang der Zigarettenarbeiterinnen mutiert zu einer Fata Morgana aus „Tausendundeiner Nacht“ und offenbart dabei eine Reflexionsfläche für weiße, notgeile Männer. / Der Chor der Gassenjungen skizziert ein generationsübergreifendes Zukunftsbild, gespeist aus fratzenhaftem Enthusiasmus, blindem Gehorsam, und gleicht so einer Hexenverfolgung aus dem Mittelalter. / Der vulgäre und zugleich übergriffig anmutenden Flirt zwischen einer Horde Soldaten und dem Bauernmädchen Micaëla triggert alptraumhafte Szenarien, wie wir sie aus dem letzten Jahrzehnt aus dem Mittleren Osten her kennen.

Zu II. Die Europäerin

Konstruktion und zugleich Dekonstruktion des europäischen Mythos der Femme fatale. Zugleich aber auch eine Metamorphose zur Femme revoltée: eine Anarchistin, die jede Form des Besitztums ablehnt, auch und vor allem in einer Paarbeziehung. Themenfelder wie die Bewegung White Wednesday, unterschwelliger Rassismus, chirurgischer Schönheitswahn, die Jahrhundert-Carmen-Ikone Maria Callas und die Comicreihe Sin City von Frank Miller definieren unter anderem diesen Kosmos.

Zu III. Die Perserin

Der Ruf der Heimat. Anhand der traditionellen persischen Erzählweise namens Naghali, in der der Erzähler rhythmischmelodisch (in einer Art Sprechgesang) Geschichten aus dem alten Epos „Königsbrief“ rezitiert, untersucht die Protagonistin ihre biographischen Wurzeln und kreiert dabei eine geheimnisvolle Märchenwelt.

Zu IV. Kampf der Identitäten

Eine der ältesten Kraftsportarten der persischen Welt namens Pahlevani, die im Zoorkhaneh (Haus der Stärke – eine arenahafte Situation) ausgeübt wird, dient als assoziative Spielform, in der die Protagonistin ihre beiden Identitäten (Lebenskonzepte) – Carmen und Don José – befragt.

SIE          Der Sieg ist längst mein. Ich bin die Sprache der Aufklärung
               und die von Goethe und Schiller.
ER           Ich bin die Sprache deiner ersten Lebensjahre.
SIE          Hör nicht auf ihn. Er ist die Sprache der
               Vergangenheit, die nicht mehr existiert.
ER           Erinnere dich an deinen Mutterboden.
SIE          Erlerne mich, vergiss den Rest.
ER           Persisch ist der Bogen, der deinen Körper zum
               Schwingen bringt.
SIE          Es ist die Sprache der Unfreiheit und des
               Abschiedsschmerzes.
ER           Ich biete dir Versöhnung und inneren Frieden.
SIE          Das ist verkehrt! Er wird dich nur am Weiterkommen
               hindern.
ER           Vergisst du mich, wirst du dich vergessen.

Ich bin Carmen und das ist kein Liebeslied ist eine Reise durch mindestens zwei disparate Zeitzonen, an deren Ende der Ursprung größtmöglicher Freiheit bei einem selbst zu finden ist. Eine Odyssee, die einen Dritten Blick kreieren will, fernab von Klischees, Rollenbildern und Kategorisierungen. Nur wer bereit ist, den Pfad des Bekannten zu verlassen, dem eröffnen sich neue gesellschaftliche, identitätsstiftende Formen und der findet seine Heimat in sich. Dieses letztendliche Ankommen ist gleichzusetzen mit einem Befreiungsakt, der jenseits aller Konventionen liegt und eine subjektive Utopie formuliert: die Rückeroberung der Heimat, die an keinen Ort gebunden ist.

  1. Akt. Der Vorhang hebt sich über einer Felsenlandschaft, einer pittoresken und wilden Gegend. Vollkommene Einsamkeit und schwarze Nacht. (Regieanweisung aus „Carmen“ von Georges Bizet)

Wenn ich gefragt werde, woher ich stamme, würde ich am liebsten schweigen. Ich würde gern etwas anderes erzählen, mir etwas ausdenken, lügen. Ich möchte, dass man mir andere Fragen stellt, unerwartete Fragen, irritierende, meinetwegen absurde. Ich will überrascht werden. Gleichzeitig räkle ich mich in meiner kleinen exotischen Welt, die mich mit ungeheurem Stolz erfüllt. Ich bin stolz, anders zu sein. Doch immer dieses Unbehagen, die innere Stimme, die mich daran erinnert, dass all das nicht ich bin, dass ich mich hinter einer Maske verstecke. Ich schenke sie ihnen, diese Maske, ich lege sie in ihre Hände.

Paul-Georg Dittrich über Ich bin Carmen und das ist kein Liebeslied

„2017 habe ich meine jetzige Frau Hasti Molavian – damals Mezzosopranistin am Theater Bielefeld, demnächst Ensemblemitglied am Volkstheater Wien – bei den Proben zu Verdis Otello kennengelernt. Sie ist gebürtige Iranerin. Vor knapp anderthalb Jahren haben wir aus der Sehnsucht heraus, wieder zusammen zu arbeiten, ein eigenes Musiktheaterprojekt ins Leben gerufen: Ich bin Carmen für Stimme, Live-Elektronik und Klavier. Autobiographische Erlebnisstränge von Hasti Molavian werden assoziativ mit den Themen und Motiven aus Georges Bizets Oper verwoben: Träume, Freiheitsdrang und Ängste vernarbter Vergangenheit. Eine Befragung der Narrative beider Welten nach Gesellschafts- und Geschlechterbildern entsteht mittels neuartiger Bild-Klang-Komposition. Ein Entwurf einer utopischen Gegenwelt zwischen Bizet und dem persischen Sprechgesang Naghali, Teheraner Originalschauplätzen und einem poetischen Erinnerungsraum.“

Unser Autor Paul-Georg Dittrich
Geboren 1983 in Königs Wusterhausen, 2007 bis 2011 Regiestudium an der Hochschule für Musik und Theater Hamburg, Regiearbeiten an der Deutschen Oper Berlin, Staatsoper Stuttgart, Oper Halle, am Aalto-Musiktheater Essen, Schauspiel Frankfurt, Theater Bremen. 2016 mit Alban Bergs Wozzeck für den Deutschen Theaterpreis DER FAUST nominiert. 2017 mit Hector Berlioz’ La damnation de Faust für den Deutschen Theaterpreis DER FAUST nominiert. 2018 Theaterpreis Hamburg Rolf Mares für I.th.Ak.A. von Samuel Penderbayne an der Staatsoper Hamburg.

Zur Januar-Ausgabe der Deutschen Bühne geht es hier.