Where we stand
Die Autorin und Dramaturgin Dages Juvelier Keates über Calving, eine neue Arbeit der Choreografin Faye Driscoll und Unusual Symptoms.
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Ein Körper ist ein Atem, der mit der Zeit zunimmt. Ein Gletscher ist ein sehr langsamer Ozean, eine Ansammlung von Gezeiten, die in scheinbar stabiler Form festgehalten werden: Zeit, buchstäblich kristallisiert. Wir können die Bewegung in einem Monolithen nicht sehen, aber wir spüren das darunterliegende Rumoren, einen uralten und zugleich dringlichen Ruf. Unter der Hautoberfläche sammeln sich wasserführende Schichten, Rinnsale fließen ineinander, schwellen an, sprudeln, brechen auf.
Die Meere teilen sich, das Eis kalbt.
In Anfang und Ende, Geburt und Tod, wenn das Eine zum Vielen wird, begegnen wir dem wunderbaren Grauen. Was wir „die Welt“ nennen, schwillt im Laufe eines Lebens bis zu einem Punkt an, an dem ein Aufbrechen unvermeidlich ist. Wie die Erdoberfläche, bestehen unsere Körper größtenteils aus Wasser, aus vorübergehenden Ansammlungen, die lecken, brodeln und ineinander schwappen. In der buddhistischen Philosophie wird der Körper als ein Zusammenfluss von fünf Flüssen dargestellt. In den alten Sutras begegnet uns die gleiche unergründliche Realität wie in der Relativitätstheorie: Nichts steht still. Wahrnehmungen verändern sich, Zellen sterben, während wir und unsere Körper im Werden begriffen sind. Wir werden stetig ausgeschlachtet, neu und wieder rückgängig gemacht, neu gemischt – und doch suchen wir nach Beständigkeit. Was machen wir mit dieser Form, dieser Hülle, in der wir uns befinden? Wir suchen nach einer gegenseitigen Berührung, einem Geschmack, einem flüchtigen Blick auf das Ewige.
Wir wollen voneinander bewegt und ineinander wiedergeboren werden, ineinander verschwinden.
Auf dem Planeten befinden sich Wellen in Bewegung, die so viel länger, so viel größer sind als wir. Wir erkennen sie immer dann, wenn sie unter der Wasseroberfläche hervortreten und zu besonderen Ausdrucksformen aufsteigen, in Momenten, die das Unsichtbare sichtbar machen. Der Philosoph Timothy Morton verwendet den Begriff des „Hyperobjekts“, um Ereignisse zu beschreiben, die so massiv über die Raumzeit verstreut sind, dass sie unsere Vorstellungskraft übersteigen: tektonische Platten, schwarze Löcher, Ölteppiche, das Sonnensystem. Etwas hat begonnen, und wir sind mit unvermeidlichen Konsequenzen konfrontiert, die zu groß sind, als dass wir sie begreifen könnten: das Anthropozän, Styropor, der Kapitalismus. Wir wenden uns ab. Wir leugnen. Und doch befinden wir uns in einer bestimmten Position wieder.
Wie stellen wir es an, uns nicht abzuwenden, wenn wir nicht wissen, was wir tun sollen?
Wie können wir unsere Aufmerksamkeit für die Knotenpunkte und Windungen der mehrdeutigen Realitäten schärfen? Die feministische Multispezies-Forscherin Donna Haraway erinnert uns an die Fähigkeit, Mehrdeutigkeiten auszuhalten, selbst wenn wir uns gespalten, abgeschnitten, betäubt und fragmentiert fühlen. Unser Werkzeug im Theater ist die Aufmerksamkeit, unser Ritual eine Praxis der Präsenz. Das vorherrschende Merkmal der Aufmerksamkeitsökonomie ist die Überwältigung. Wir sind zu sehr vernetzt, mit zu vielen Kontakten und scheinen in den Gesprächsströmen zu ertrinken, die durch gestaltlose soziale Kreisläufe fließen. Überwältigung führt zu noch mehr Überwältigung, Stimulation zu Sättigung. In Calving lädt uns die interdisziplinär arbeitende Künstlerin Faye Driscoll ein, zur Ruhe zu kommen und unsere Aufmerksamkeit zu schärfen.
Die Arbeit der US-amerikanischen, zwischen Los Angeles und New York City lebenden Künstlerin changiert zwischen Choreografie, Regie, Performance, bildender Kunst und Sound.
Faye Driscoll entwirft Umgebungen, in denen sich Details zu Szenen von zunehmender Komplexität verdichten. Nichts geht verloren: Stimmen, Requisiten und Kostüme tauchen auf, fallen auseinander und werden wieder zusammengesetzt. Driscolls Vision geht vom kleinsten Partikel aus und löst sich von ihrem zeithistorischen Kontext. Wer ihre Arbeit betritt, begibt sich auf eine Pilger:innenreise, einen Karneval, einen Clusterfuck. Wir erhaschen einen Blick auf den Körper als ein Gebilde der Vielheit, ineinander verstrickt, sich entfaltend, die Vielfältigkeit des Individuums offenbarend. Der große Schlund des Körpers öffnet sich und wir werfen einen langen Blick in ihn hinein.
Der menschliche Körper, unsere Gefühle und der Exzess sind wiederkehrende Themen in Driscolls Arbeit.
Ihre Inszenierungen sind voll von Menschen, die menschliche Dinge tun: Peinlich berührt und verzückt, entsetzt und geil, versuchen sie, ineinander und in uns zu gelangen. Die Performer:innen sind virtuos, ausgestellt, kommen uns so nah, dass wir sie und sie uns sehen können, den Schweiß riechen, den sie verströmen. Sie spielen, stapeln und schubsen einander, in sich rasch wandelnden Welten, die ständig zu verrutschen scheinen. In diesen komplexen Kontaktzonen gehen Geschlechter, Archetypen und Identitäten ineinander über: unbeholfen, zerfließend, dämonisch, orgasmisch, chaotisch.
Und wir, die Betrachter:innen, sind durch all das miteinander verbunden.
Eine Versammlung von Fremden formt in Driscolls beinahe dionysischen Spektakeln eine Gesellschaft. Darin erinnern ihre Arbeiten an die sakralen und zivilen Ursprünge des westlichen Theaters, die sich am Ritual und der schlüpfrigen Unterseite eines „demos“ orientieren, der griechischen Idee eines Staatsvolkes, einer Gesellschaft. Was wir darin sehen, hängt davon ab, von wo aus wir schauen und aus welchem Blickwinkel wir uns gegenseitig anglotzen, verbünden und stützen. Durch unser Aufeinandertreffen sehen wir uns selbst von neuem. Wir sind Engel und Arschlöcher, unerträglich menschliche Fragmente zersplitterter Götter, verhaftet in unserer Ambivalenz, aber dennoch präsent und hier, um zu spielen.
--- English version ---
Author and dramaturge Dages Juvelier Keates about Calving, a new work by Faye Driscoll and Unusual Symptoms.
A body is a breath that accretes over time. A glacier is a very slow ocean, an accumulation of tides held in seemingly solid form: time, literally, crystallized. We can't see movement in a monolith, but feel rumbling below, a simultaneously ancient and urgent call. Under the skin surface, aquifers pool, rivulets gather, surge, bubble up, break open.
The seas part, the ice calves.
In beginnings and endings, births and deaths, when the One becomes the Many, we encounter the miraculous horrific. What is called “the world” tumesces to a point from which cracking open is inevitable. Our bodies, like the planet, are mostly water, and these temporary ingatherings spill, seethe, and surge into each other. Buddhist philosophy posits the body as a convergence of five rivers. In the old sutras as in the theory of relativity, the same unfathomable reality: nothing stands still. Perceptions are changing, cells dying in becoming. We are infinitely cannibalized, undone, remixed, and yet, we seek for constancy. What do we do with the shape that we are in?
We look inside of each other for a touch, a taste, a glance of the eternal; we seek to be moved by, reborn in, and disappeared into each other.
Waves have been set in motion that are so much longer, so much larger than us. We know them when they surge from submerged latency into particular expressions, moments that render the invisible visible. Philosopher Timothy Morton employs the term hyperobject to describe events that are so massively dispersed through spacetime that they transcend our ability to conceive them: tectonic plates, black holes, oil spills, the solar system. Something has begun, and we are facing inevitable consequences too large for us to conceive: the anthropocene, styrofoam, capitalism. We turn away. We deny. And yet, we find ourselves in a position.
How do we not turn away when we don’t know what to do?
How might we thicken our attention to the knots, nodes, and coils of ambiguous realities? Multispecies feminist scholar Donna Haraway calls for cultivating a capacity to “stay with the trouble” even when we feel split, cut off, numbed out, fragmented. Our tool is attention, and this ritual is a presence practice. Perhaps the dominant attribute of the attention economy is overwhelm. Too multiply connected, hyperlinked, we seem to drown in conversational currents trending through amorphous social circuits. Overwhelm leads to more overwhelm, stimulation to saturation. In Calving, transdisciplinary artist Faye Driscoll invites us to settle in and examine our attention.
An American artist based between Los Angeles and New York City, Driscoll’s practice spans choreography, direction, performance, visual art, and sound.
She crafts environments in which details accrete into scenes of compounding complexity. Nothing is lost: voices, props, and costumes appear, fall apart, and recycle themselves iteratively. Driscoll’s vision is granular and transhistorical. Entering her work, one joins a pilgrimage, a carnival, a clusterfuck. We catch a glimpse of the body as always multiple; entangled, unfurling open, unmasking the multitudes within the individual. Open the great maw of the corpus to take a longer look inside.
The human body, our emotions, and excess are recurring subjects.
Driscoll’s productions are full of people doing people things: embarrassed and enraptured, horrified and horny, they are trying to get into each other, into us. The performers are virtuosic, exposed, close enough for us to see and be seen by them, to smell sweat. They play, pile, and push, in swiftly transforming worlds of continuous slippage. In these complex contact zones, genders, archetypes, and identities spill into each other: awkward, deliquescent, daemonic, orgasmic, chaotic.
And we, the viewers, are coimbricated through it all.
A gathering of strangers becomes a society in Driscoll's almost Dionysian spectacles, evoking the sacral and civic origins of Western theater in orientation to ritual and the slippery underside of a demos. What we see depends on where we are looking from, and from which angle we collude with, gawk at, and uphold each other. Transformed by engagement, we see ourselves afresh. We are angels and assholes, unbearably human fragments of dismembered gods, arrested in our ambivalence but present, nonetheless, to play.
Veröffentlichung: 2.6.22