Wie guckt das denn? „Wie so zwei Minuten bevor man kotzen muss.“
Für die Musiktheater-Uraufführung Fundstadt ist das Team mit sechs Kindern auf Fantasiereise gegangen: Entstanden sind sechs sehr unterschiedliche Dingwesen, für die die Ausstatterin Andrea Künemund gemeinsam mit ihrer Kollegin Sibylle Müngersdorf Bilder finden musste. Wie das geht? Musiktheaterdramaturgin Frederike Krüger hat nachgefragt.
In den Noten von Fundstadt habe ich von sogenannten „Dingen“ und „Ding-Liedern“ gelesen – was hat es damit auf sich?
Andrea Künemund: Fundstadt findet im Rahmen des Kooperationsprojekts NOperas! an zwei Orten statt, in Gelsenkirchen und Bremen. Zu Beginn des Projekts hat die Regisseurin Uta Plate drei Kinder aus Bremen und drei Kinder aus Gelsenkirchen angeleitet, sich auf eine Reise durch ihre Fantasie zu begeben. Aus diesen Fantasiereisen sind „Dinge“ entstanden. Und diese Wesen tauchen auf ganz unterschiedliche Weise, an unterschiedlichen Orten immer wieder in Fundstadt auf – als gebaute Objekte, die szenisch auftauchen, aber eben auch als musikalische Motive.
Was für Fantasiereisen waren das?
Andrea Künemund: Während dieser Reisen sind die Kinder gedanklich in andere Welten abgetaucht und dort ihrem Wesen begegnet. Wir haben Tonaufnahmen von den Erzählungen der Kinder bekommen und konnten somit hören, wie die Kinder ihre Wesen ganz genau beschreiben, wie ihr Wesen aussieht, was es gerne isst, welche Spiele sie gerne zusammen spielen und auch, was das Wesen charakterlich auszeichnet.
Du machst zusammen mit deiner Kollegin Sibylle Müngersdorf die Ausstattung der Produktion. Wie habt ihr nun aus diesen Beschreibungen die Wesen entstehen lassen?
Andrea Künemund: Wir haben uns die Aufnahmen angehört und hatten nur die Stimmen der Kinder, keine Bilder oder Fotos. Das fand ich total schön, nur den Stimmen zu lauschen, so konnten auch wir in eine ganz andere Welt eintauchen. Während der Aufnahme hat jede von uns Zeichnungen dazu erstellt. So haben wir schnell viele, auch wilde und assoziative Ideen gesammelt.
Aus diesen Fantasiereisen sind sechs Filme entstanden (pro Kind ein Film), die die Zuschauer:innen auf einem Tablett sehen, während sie einen Spaziergang rund um das Theater machen und an verschiedenen Stationen auch noch auf Musiker:innen treffen. Das Publikum sieht und hört die Stadt durch die Augen und Ohren der Kinder. Wie war das für euch, in die Welt der Kinder einzusteigen?
Andrea Künemund: Ich fand es so spannend, dass die Kinder in dem Wesen, das sie sich erdacht haben, immer einen Freund oder eine Freundin gesehen haben, jemanden, der sie spiegelt oder aber total anders ist als sie. Zu sehen und zu spüren, welche Bedürfnisse und Wünsche sich eigentlich in diesem Wesen zeigen, war total emotional. Ein Kind meinte zum Beispiel, dass es sich immer alles mit seinen Geschwistern teilen muss und sich deswegen so wünscht, eine Welt und ein Wesen für sich zu haben. Vieles hat uns zum Nachdenken, aber auch extrem zum Lachen gebracht. Ein Kind sagte zum Beispiel auf Utas Frage, wie der Gesichtsausdruck des Wesens sei, „wie so zwei Minuten bevor man kotzen muss.“
Was war euch wichtig bei der künstlerischen Umsetzung der Wesen?
Andrea Künemund: Wir wollten nicht nur ein Wesen abbilden, sondern dessen Eigenschaften. Welches Gefühl vermittelt das Wesen seinem Kind? Für was steht das Wesen, auch auf einer übergeordneten Ebene? Das eine Kind sprach zum Beispiel von einem Einhorn. Nun wollten wir nicht nur ein Pferd mit Horn hinstellen, sondern fragten uns, was dieses Einhorn eigentlich ausmacht. Und dann haben wir uns gedacht, dass wir die Gasse, die in den Landweg führt, zu einer „anfassbaren“ Einhorn-Welt mit einem regenbogenfarbenen Haar-Vorhang, Glitzer und Möhren als Einhornfutter umgestalten.
Welchen Wesen begegnet man nun auf dem Theater-Audiovideo-Walk? Und an welchen Orten?
Andrea Künemund: Die Wesen sind im Video zu sehen und auf unterschiedliche Weise auch während des Walks um das Theater. Ein Wesen ist beispielsweise eine Zusammensetzung aus Geist, Flügeln und Hühnerfüßen. Das Wesen ist schwarz oder weiß, auf keinen Fall bunt und extrem schüchtern. Wir suchten also einen Raum, der diese Schüchternheit zeigt, aber auch die Lust am Verstecken und das etwas Gruselige. So sind wir im Keller des Theaters gelandet mit einem riesigen Aufzug, der uns selbst total fasziniert. Die anderen Wesen und Orte sind um das Theater herum zu finden.
Wie war das für die Kinder, ihren Wesen zu begegnen?
Andrea Künemund: Ganz unterschiedlich, manche Kinder hatten bereits vorher schon einige Szenen gedreht und waren sehr professionell, sodass sie gar nicht sofort gezeigt haben, was sie fühlen. Aber letztendlich war es für alle Kinder ein Highlight, nochmal leibhaftig durch die Welt ihrer Wesen und damit durch ihre eigene Fantasie zu toben. Einen Moment fand ich dabei sehr schön. Das eine Kind hatte sich einen Dinosaurier als Wesen ausgedacht, mit dem sie loszieht und Bäume ausreißt. Das klingt ja erst mal sehr zerstörerisch und brutal. In ihrer Fantasie bekam sie von ihrem Wesen auch einen Baum geschenkt, also haben wir ihr einen zarten Bonsai-Baum mit Schleife überreicht. Davon war sie total berührt und hatte Angst, diesen Baum, den sie in ihrer Fantasie vielleicht eher ausgerissen hätte, zu zerstören. Allgemein war es total berührend, in die Welt von Kindern mitgenommen zu werden und zu sehen, wie viel Fantasie sie haben, welche Ideen, Wünsche und Emotionen schon da sind, wenn man mal genauer nachfragt.
Veröffentlicht am 30. Mai 2023