Wie sehr schreibt unsere Geschichte uns?
Autorin Olga Grjasnowa und Regisseurin Nina Mattenklotz im Gespräch mit Moderatorin Corinna Gerhards über den Roman „Der Russe ist einer, der Birken liebt“, der Ende März im Kleinen Haus Premiere feiert.
Corinna Gerhards: Wie fühlt es sich für dich an, dass dein Roman, bei dem du jede Formulierung geschliffen, jedes Wort sorgfältig gewählt hast, in eine andere Form überführt wird? Im Herbst kam der Kinofilm heraus, hier in Bremen wird nun der Roman für die Bühne adaptiert.
Olga Grjasnowa: Das ist zuallererst natürlich eine große Ehre und eine große Freude. Und dann ist es auch faszinierend zu sehen, welche Möglichkeiten des Erzählens sich dadurch eröffnen: beim Theater ist es zuerst ja eine Frage der Fassung und der Regie, der Dramaturgie, und dann sind da natürlich auch noch die Schauspieler:innen, die den Text jeden Abend auf der Bühne sprechen und die man gar nicht unter Kontrolle haben kann – was schön ist! Auf einmal hat man also eine Körperlichkeit, man hat Bewegung, man hat Sprechweisen, die es im Buch nicht gab.
Corinna Gerhards: Nina, du inszenierst den Text hier am Theater Bremen. Was interessiert dich an diesem Stoff?
Nina Mattenklotz: In dem Roman sind ja viele Geschichten versammelt und auch einige Fragen: Wie komme ich zu meiner Geschichte? Was ist überhaupt meine Geschichte? Ich verstehe Identitäten eher fließend und trotzdem glaube ich, dass es einen Wunsch gibt, sich selbst zu verstehen. So würde ich die Bewegung der Protagonistin Mascha beschreiben: Ich habe das Gefühl, dass sie sich selbst begreifen möchte, gar nicht unbedingt verorten. Einen bestimmten Teil ihrer Geschichte möchte oder kann sie nicht anschauen: Sie möchte diesen Teil vergessen. Einen anderen Teil ihrer Geschichte, nämlich die Zeit mit Elias, ihrem Geliebten, möchte sie jedoch niemals vergessen.
Corinna Gerhards: Inzwischen ist „Der Russe ist einer, der Birken liebt“ ja auch Schulliteratur, in Bremen sogar Abiturstoff – wie ist das für dich als Autorin, Olga?
Olga Grjasnowa: Es ist einerseits sehr schmeichelhaft und zugleich auch mit einer großen Angst verbunden. Aber ich muss sagen, dass die Schullesungen bisher immer die besten Lesungen waren: Von den Jugendlichen kommen sehr gute Fragen, die oft das Wesentliche erfassen. Wir hatten ziemlich gute Workshops, bei denen ich selbst Aspekte der Figuren erkannt habe, die mir, glaube ich, sonst nicht aufgefallen wären.
Corinna Gerhards: Denkst du, Nina, als Regisseurin beim Inszenieren darüber nach, dass viele junge Leute im Publikum sitzen werden?
Nina Mattenklotz: Ich finde es ganz toll, dass das Buch in Schulklassen gelesen wird, weil es darin um absolut relevante Themen geht. Ich finde in dem Roman grundsätzliche Fragen wieder: Wer sind wir? Wie sehr schreibt unsere Geschichte uns? Und wie sehr können wir selbst unsere Geschichte schreiben? Wie autonom sind wir? Das sind ja allgemeingültige und gerade für junge Menschen entscheidende Fragen. Daneben ist es aber auch eine konkrete Geschichte über die Auswirkungen von Krieg, Flucht und Alltagsrassismus, die vielen betroffenen Jugendlichen, die gerade zur Schule gehen, eine Stimme geben kann. Mascha und ihre Freund:innen erzählen von ihren Erfahrungen und spiegeln zugleich mich als weißen Menschen, sodass ich mich fragen kann: Welchen Anteil habe ich eigentlich daran? Wie agiere ich aus meiner Geschichte heraus?
Das Gespräch ist ein Ausschnitt aus der Veranstaltung der Reihe „Erzählte Identität“ am 23. Januar 2023 im Kleinen Haus.
Veröffentlicht am 23. März 2023