Wir weinen
Johanna Haberer ist Professorin für Christliche Publizistik und Ethikratmitglied, gemeinsam mit ihrer Schwester Sabine Rückert nimmt sie den ZEIT-Podcast „Unter Pfarrerstöchtern“ auf. Anlässlich von „Erbarmen“ hier ihre Predigt zum Karfreitags-Konzert der Matthäuspassion. Sie lässt sich aktuell kaum lesen, ohne an den Ukraine-Krieg zu denken. Aber auch andere Tränen sind gemeint.
Liebe Schwestern und Brüder,
da sitzt Ihr heute hier und Ihr seid Zuhörer und Zeugen und Mitspieler, Akteure und Publikum in einem bei dem gewaltigen Passionsspiel.
Wir hören auf das Evangelium des heutigen Tages, wie es der erste Evangelist Matthäus niedergeschrieben hat und der fünfte Evangelist Johann Sebastian Bach in Noten gesetzt hat. Und wir hören das Schluchzen der Seele in den Arien, Ihrer und meiner Seele, die Reue empfindet, der das gequälte Herz blutet, zittert und in Tränen schwimmt.
„O Mensch bewein Dein Sünde groß.“ Und wir fügen uns zu einer Trauergemeinde zusammen: Ich will hier bei Dir stehen, singen wir, verachte mich doch nicht, von Dir will ich nicht gehen, wenn Dir Dein Herze bricht.
Ich finde mich vor mitten in einem herzerschütternden Gespräch mit Gott, mit der Welt und mit mir selbst.
Die Matthäuspassion ist ein großes Gebet, wie es das Gebet im besten Sinne meint: ein bewegter und bewegender Dialog zwischen Gott und der Welt und mir – während, ja, während der Sohn Gottes stirbt. Wir sind Betroffene. Wir sind Sterbebegleiter.
Es darf geweint werden. Es darf geklagt werden. „Kommt helft mir klagen“, ruft der Chor gleich zu Beginn, Sie sind gemeint…
Heute darf geweint werden in einer Welt, die Tränen unterdrückt und Weinende verachtet. Es darf geweint werden in einer tränenlosen Welt, in einer seelisch verkrusteten Zeit, die sich das Leid trockenen Auges vom Leibe hält.
Es darf geweint werden.
Wir weinen um alle, die unschuldig zu Tode kommen, die gequält werden und verfolgt, denen Gewalt angetan wird an Leib und Seele. Wir weinen über eine Welt, die so voll von Schmerz ist.
Und wir weinen über eine Welt, die so voll von Schuld ist: Voller Gier und Maßlosigkeit, voller Gleichgültigkeit und Ignoranz, voller Verrat und Treulosigkeit, eine Welt zum Heulen mit tauben Ohren für das Weinen der Schwachen, mit verfetteten Herzen gegenüber den maßlos Elenden.
„Und sie wurden sehr betrübt und huben an ein jeglicher unter ihnen: ‚Herr bin ichs.‘ ‚Ich bins, ich sollte büßen an Händen und an Füssen… Ich bins.‘“
Ich darf endlich weinen über mich selbst.
Ich weine darüber, dass ich nicht zuhöre, wenn ein anderer mir etwas sagen will.
Ich weine darüber, dass ich den anderen nicht so wichtig nehme, wie mich selbst.
Ich weine darüber, dass ich mich durch mein Leben schwindle – immer kurz davor aufzufliegen.
Heute am Karfreitag muss ich mir nichts vormachen.
Ich höre den Hahn krähen und ich darf weinen über meine Schwäche, darüber, dass ich schlafe, wenn ein anderer mich braucht, darüber dass ich abhaue, wenn es ernst wird und den anderen, die andere im Stich lasse.
Darüber, dass ich schwindle, wenn ich bekennen sollte. Darüber, dass ich mich durch meinen Job laviere und die Hände in Unschuld wasche, wenn ich mich anlegen sollte. Darüber, dass ich mich an jedem Wahnsinn beteilige, nur weil die anderen es auch tun.
Heute muss ich mir nichts vormachen. Heute darf ich weinen. „O Mensch bewein Dein Sünde groß“.
„Ach wo ist mein Jesus hin?“, fragt die Seele, wohin ist mein Freund gegangen… Und wir gehen mit und wir suchen unseren Heiland. Der Weg führt uns vor Gericht, wo Unrecht gesprochen wird. Blinde, voreingenommene Richter, falsche Zeugen.
Und wir suchen unseren Heiland in den Folterkammern dieser Welt, wo Menschen andere bespucken und bespeien, wo sich Gewaltorgien abspielen „Wer hat Dich so geschlagen“ fragen wir und wir wissen die Antwort.
Und wir sehen von ferne unseren Heiland vaterseelenallein, gebunden und mit blutendem Haupt vor einer brüllenden Menge stehen. Und wir folgen ihm den langen, langen Weg nach Golgatha und wir flüstern mit ihm: „Mein Gott mein Gott warum hast Du mich verlassen“. Und während wir das alles sehen – mit unseren inneren Augen sehen – gehen uns die Augen auf und wir hören von ferne singen: „Wahrlich dieser ist Gottes Sohn gewesen“.
Sterbebegleiter sind wir heute am Karfreitag. Und wir dürfen unseren ganzen Schmerz und unsere ganze Schuld, all unsere Tränen, die geweinten und die ungeweinten, hierher nach Golgatha zu Grabe tragen. Und wir sprechen eine innige Bitte aus: „Wenn ich einmal soll scheiden, so scheide nicht von mir“.
Und dann beim Betrachten dieses Sterbens, das sich mit der Vision des eigenen Sterbens mischt, wächst uns eine ungeheuerliche Klarsicht zu. Wir schauen direkt in den Himmel und jetzt erkennen wir es selbst: „Wahrlich dieser ist Gottes Sohn gewesen.“
Aber wir sind noch nicht fertig. Es ist noch nicht vollbracht. Wir müssen unseren Heiland noch begraben. Wir nehmen ihn vom Kreuz und bringen ihn an seine letzte Ruhstätte. Und wir singen ihm unter Tränen ein Schlaflied: „Mein Jesu gute Nacht“.
Es darf geweint werden. Es muss geweint werden bei diesem gewaltigen Gebet, diesem unaufhörlichen Gespräch, das alles Leid der Welt zu Wort kommen lässt. Ihm sein Recht gibt und seine Würde.
Und das uns als andere entlässt als die wir gekommen sind. Klarsichtiger, einsichtiger, liebevoller, barmherziger – getröstet. Wir können ruhig schlafen jetzt. Tausend Dank, Tausend Dank! Wird der Sopran am Ende singen. Tausend Dank. Amen.
Veröffentlichung: 16.3.22