Wo liegen die Grenzen der Forschung?

„Wenn die Vernunft schläft, gebiert der menschliche Geist Ungeheuer“ (nach Francisco de Goya): Doctor Atomic kommt auf die Bühne im Theater am Goetheplatz. Die Proben haben schon vor dem Sommer begonnen. Zum Auftakt ein Text von Regisseur Frank Hilbrich.

Am frühen Morgen des 16. Juli 1945 brachten Wissenschaftler und Militärs unter Leitung von Dr. Robert Oppenheimer und General Leslie Groves in Los Alamos, in der Wüste New Mexicos, erstmals eine Atombombe zur Explosion. Der von ihnen sogenannte „Trinity Test“ (Dreieinigkeitstest) galt als erfolgreich. Bereits drei Wochen später setzten die USA Atombomben im Krieg gegen Japan ein. In Hiroshima und Nagasaki starben schlagartig hunderttausende Menschen, viele weitere litten und starben in den Jahren danach an den Folgen der Strahlung und Zerstörung. Die genaue Opferzahl ist nicht bezifferbar, sie geht in die Millionen.

Der Schock saß tief.

Völlig unvorbereitet sah sich die Menschheit plötzlich im Besitz der Möglichkeit, nicht nur sich selbst, sondern alles Leben auf dem Erdball zu vernichten. Was menschlicher Geist und die Intelligenz führender Wissenschaftler erdacht und in die Welt gesetzt hatten, brachte den Menschen in die Nähe eines Gottes, eines Richters über Leben und Tod, in bis dato unbekannten Dimensionen. Und es entpuppte sich als gewaltige Überforderung. Der Umgang mit Atomwaffen ist seit fast 80 Jahren ein Zeugnis für eine grauenhafte Diskrepanz: Einerseits sind Menschen zu ungeheuren Denkleistungen, Analysen und Berechnungen fähig. Andererseits kann der Mensch die Auswüchse, die Ungeheuer, die sein Geist gebiert, nicht immer kontrollieren und verantworten.

Egal, ob es um die Erfindung der Atombombe oder um das offenbar völlig unkontrollierbare Experimentieren mit künstlicher Intelligenz geht, betreibt Wissenschaft, betreibt der menschliche Geist, Todesspiele.

Der amerikanische Komponist John Adams sucht, wie kaum ein anderer, seine Themen im kollektiven Gedächtnis unserer Zeit. Sein Musiktheater entzündet sich an Wendepunkten der Geschichte, an Ereignissen, in denen uns Sprachlosigkeit überfällt und unser Erfassungsvermögen überfordert ist. Hier setzt seine Musik an. Die Fassungslosigkeit wird Musik, wird zu enormen und extrem beeindruckenden Klangschichtungen. Die Oper Doctor Atomic wird so zu einem Ausdruck des Erschreckens und der offenen Fragen angesichts eines ungeheuerlichen Vorgangs, der die Welt veränderte.

Was ist genau in den letzten 48 Stunden vor dem ersten Atombombentest in Los Alamos geschehen?

Mit wie viel Bewusstsein für ihre Verantwortung haben Oppenheimer und seine Kollegen an der Bombe gearbeitet? Gab es Zeit und Raum für moralische Fragen? Oder sorgte die militärisch und politisch aufgeheizte, fast hysterisch zu bezeichnende Situation dafür, dass hier die klügsten Köpfe der Welt gemeinsam kopflos handelten? John Adams und sein Librettist Peter Sellars erzählen die Ereignisse in Los Alamos chronologisch, aber nicht dokumentarisch. Sie montieren Aussagen, die damals wirklich getroffen wurden, mit Gedichten von Charles Baudelaire und John Donne. Es ist bekannt, dass Robert Oppenheimer diese Gedichte, die tiefste Zweifel und Verzweiflung offenbaren, gut kannte. Adams und Sellars ergänzen ihr Libretto mit ausgiebigen Texten der amerikanischen Schriftstellerin und Feministin Muriel Rukeyser. Ihre Texte sind leidenschaftliche und sinnliche Plädoyers für Menschenwürde, für Achtung vor der Schöpfung und ganz entschieden gegen den Krieg. Am Ende, mit dem Countdown für den Abschuss der Bombe, geraten die Figuren in einen bizarren Sog, voller Ängste, voller Zweifel und Fragen und doch durchdrungen von einem fast wahnhaften Forschungsdrang, der sich über alles andere hinwegsetzt.

Adams Musik folgt dabei keiner speziellen Schule, grenzt sich nicht selbst ideologisch ein.

Geprägt von Charles Ives und besonders seinem Lehrer Steve Reich, bezeichnet er sich selbst seit geraumer Zeit als „Postminimalist“. Besonders in Doctor Atomic spürt man, wie er die rhythmische Kraft der sogenannten Minimal Music mitnimmt, um den atemlosen Drive des Countdowns vor der Explosion erlebbar zu machen. Daneben stellt er große symphonische, manchmal fast spätromantisch anmutende Passagen, die gleichermaßen von der Faszination und Freiheit des Geistes wie auch von der unendlichen Verlassenheit des Individuums erzählen. Ein kraftvolles, äußerst spannendes Musiktheater, das Fragen aufwirft, die bis heute ungeklärt sind und zur Zerreißprobe für die Menschheit werden. Wo liegen die Grenzen der Forschung? Worin liegt die Verantwortung von Wissenschaft? Wie kann menschliche Intelligenz einhergehen mit dem, was Menschen und Individuen aushalten und ertragen können?

 

 

Veröffentlicht am 7. Juli 2023