Wunder im Wesernebel

Ein kleiner dramatischer Gruß an Werder Bremen von Moritz Rinke

Ich habe einen alten Freund aus Kindertagen, er ist der einzige, der nicht in meinem Fußballverein war und ich habe ihn niemals gegen einen Ball treten sehen. Er kam mir als Kind vor wie ein alter Mann, mit dem ich mich über Michelangelo und Ernst Barlach unterhalten musste anstatt über Dieter Burdenski oder Rudi Völler, die meine Werder-Bremen-Helden waren. Er ist dann wirklich Bildhauer und Maler geworden (Sperrige Objekte aus bemaltem Sperrholz), er lebt abgeschieden, ich wette, er ist nicht mal in einem Kunstverein oder einem Mieterverein, geschweige denn bei Facebook.

Letztes Wochenende klingelte mein Festnetztelefon, das ich eigentlich nur noch für meine handylose Mutter habe. Es war er. Er habe an mich gedacht, weil heute doch Werder das alles entscheidende Spiel habe. Er sagte: „Heute ist ein dramatischer Tag. Ernst Barlach sagte: Die ganze Welt ist in schiefer Position, das Ausbalancieren darf aber nicht aufgegeben werden. Ich erinnere mich, dass wir früher an Wochenenden mit deinem Vater die Sportschau gesehen hatten. Heißt sie noch immer so? Guckst du immer noch die Sportschau?“

Ich gucke schon mein ganzes Leben lang die Sportschau! Sogar in den Corona-Wochen. Mir war auch der Boykott der Geisterspiele, bremisch gesagt, scheißegal, weil ich unbedingt wissen wollte, wie es mit Werder weitergeht und ob sie tatsächlich nach 40 Jahren absteigen. Ich habe sogar eine Mail an Union Berlin geschrieben, dass ich nach Köpenick komme und den Rasen an der Alten Försterei küsse, wenn sie für uns Düsseldorf schlagen – haben sie dann auch gemacht! Union ist auch ein Teil des neuen Werderwunders („Die Bremer passen doch viel besser zu Union als die Düsseldorfer mit ihrer schicken Kö! Ohne Werder wäre die Bundesliga in schiefer Position!“, schrieb ich in der Mail).

Im Prinzip ist man in Bremen sachlich, aber im letzten Moment wirken über der Stadt oft magische Kräfte. Meist geschieht dies an jener Weserbiegung, wo der Fluss erst eine Rechtskurve, dann sofort wieder eine Linkskurve macht. Dort steht das Weserstadion, eine der letzten Wunderstätten einer an Wundern armen Republik.

Eines habe ich selbst erlebt, am Nikolausabend 1989: Uefa-Pokal, Rückspiel gegen den SSC Neapel, den Titelverteidiger, damals eine der besten Mannschaften der Welt. Endergebnis: 5:1! Für Neapel spielte Diego Maradona, also Gott, der danach im Weserstadion weinte.

Oder 1987 im November: Uefa-Pokal, Rückspiel gegen Spartak Moskau, dichter, kalter Wesernebel, ich hatte über mein Karl-Heinz-Riedle-Trikot noch das alte Manfred-Burgsmüller-Trikot und darüber noch das ältere Rudi-Völler-Trikot angezogen. Das Hinspiel hatte Werder 1:4 verloren. Und dann das: 4:1 für Bremen, Verlängerung!
Riedle mit dem Kopf, 5:1, 100. Minute. Ich riss mir alle anderen Trikots vom Leibe, um nur im Riedle-Trikot zu jubeln. Und dann kam sogar noch Burgsmüller, Drehschuss, ich zog in Ektase das Burgsmüller-Trikot wieder drüber. 6:1! (Wie am letzten Wochenende gegen 1. FC Köln: auch 6:1!)

Werderwunder haben immer diese Ergebnisse: eine aussichtslose Ausgangslage und dann 5:1 oder 6:1. Man denkt dann an solche Typen von früher, an Burgsmüller, Riedle, an Burdenski, an die Abende im Wesernebel. Das ist das Schöne am Fußball. Wenn Werder jetzt in der Relegation gegen den 1. FC Heidenheim besteht, dann jubeln auch die Kindertage mit, es schwingt alles von damals herüber – eigentlich rollt der Ball immer rückwärts. Und wenn sie nicht bestehen, dann klingelt hoffentlich wieder die Festnetzleitung und der alte Bildhauer- Freund ist dran und tröstet.