„Zehn Generationen von Ahnen blicken auf einen herab“
Berührend, bedrohlich, gewaltig: Tarjei Vesaas‘ Roman Der Keim kommt im Theater Bremen zur deutschsprachigen Erstaufführung. Dramaturgin Sonja Szillinsky schreibt über den Autor, seine Romane, seine Sprache, seine Bilder. Eine Hommage.
„Der Schweinestall war Teil einer großen, rot gestrichenen Scheune. Sie gehörte zu einem Hof, der auf einer kleinen, grünen, fruchtbaren Insel lag, in einer Meeresbucht, die Schutz vor dem ruppigen Wetter weiter draußen bot.“ – Die Welt, in der die meisten Romane und Erzählungen des Autors Tarjei Vesaas spielen, ist von der Natur geprägt: Wir lesen von bäuerlichen Lebensentwürfen, von bescheidenen, zurückgezogen lebenden Figuren, die ihren Platz in der Welt suchen und sich dabei stets in einem Verhältnis zur Natur befinden, das sich zugleich als Abhängigkeit und Hinwendung beschreiben lässt. Die Lebenswelt, die Vesaas in seinen Texten zeichnet, ist ihm selbst wohlbekannt: 1897 wird er als ältester Sohn einer Bauernfamilie im Ort Vinje in der norwegischen Region Telemark geboren und soll, so will es die Tradition, den Hof übernehmen, auf dem seine Familie seit dreihundert Jahren lebt. Doch bereits als Kind verzweifelt er an dem ihm vorgezeichneten Weg: „Es war keine Frage, was man als Erwachsener werden würde, zehn Generationen von Ahnen blickten auf einen herab“, schreibt Vesaas im Nachhinein. Und dennoch folgt er seiner Sehnsucht nach einem anderen Leben:
Nach mehreren Reisen durch Europa wird er den traditionellen Weg verlassen und Schriftsteller werden.
Die Entscheidung ist von Schuldgefühlen und inneren Widerständen geprägt, die immer wieder Eingang in seine Texte gefunden haben. Dem Leben auf dem Land bleibt Tarjei Vesaas dennoch zeitlebens verbunden: Mit seiner Frau, der Lyrikerin und Autorin Halldis Moren Vesaas, bezieht er 1934 den kleinen Hof Midtbø unweit seines Elternhauses und lebt dort mit ihr und den beiden Kindern bis zu seinem Tod im Jahr 1970. Es sind produktive Jahre für die Autor:innen: Beide schreiben, beide reisen und feiern Erfolge. Sie gehören zu den wichtigsten Schrifsteller:innen ihrer Generation und vor allem Tarjeis Romane werden in Skandinavien bis heute gelesen. Mehrfach wurde sein Name für den Nobelpreis gehandelt, zugesprochen wurde er ihm jedoch nie. Für sein Buch Das Eis-Schloss, erhält er 1964 den Literaturpreis des Nordischen Rates, in ihm finden sich viele seiner typischen Themen: Es geht um Fragen des Kindseins und Erwachsenwerdens, um Generationenkonflikte, um Einsamkeit, Trauer und um das Verhältnis des Menschen zur Natur in ihrer Schönheit und zugleich Bedrohlichkeit. Bezeichnend für Vesaas‘ Schreiben ist auch die symbolhafte Aufladung von Naturphänomenen: Das Eis-Schloss ist ein eingefrorener Wasserfall, der zum Bild für den Tod, für die Sehnsucht nach Nähe und die brutale Schönheit, die die Natur hervorbringen kann, wird.
Auch in Der Keim stehen Mensch und Natur im Fokus.
Der Text entsteht 1940, im ersten Kriegssommer, als Reaktion auf die Okkupation Norwegens durch die Nationalsozialisten, die im Hause Vesaas zu großer Sorge führt. Zunächst soll der Text ein Theaterstück werden, doch Vesaas ringt mit der dramatischen Form und entscheidet sich schließlich für Prosa, damit der Text möglichst schnell zur Veröffentlichung kommen kann. Danach publiziert er bis zum Kriegsende zwar zahlreiche Artikel und Gedichte, jedoch keinen Roman. In ihrem Memoir über ihr ungewöhnliches gemeinsames Leben, das Halldis Moren Vesaas nach dem Tod ihres Mannes veröffentlicht, schreibt sie: „Tarjei schrieb viel, aber nur noch für die Schreibtischschublade. Seinen privaten Boykott begann er bereits, bevor es üblich wurde: Nach Der Keim beschloss er, keine neuen Bücher zu veröffentlichen, bis sich die Zeiten geändert hätten. Seine Schublade wurde ziemlich voll, bis der Krieg vorbei war. Und nicht nur die Schublade. Nach und nach begann er, Manuskripte an geheimen Orten draußen zu verstecken, ein Exemplar hier und ein anderes dort.“
Die beiden Autor:innen gehören den prägenden norwegischen Literaturkreisen an und finden in Zusammenkünften mit anderen ein wenig Halt in diesen trostlosen Zeiten.
„Wir begannen allmählich, unsere Werke bei privaten Zusammenkünften und öffentlichen Veranstaltungen vorzulesen. Das Risiko, ‚gefährliche‘ Dinge vorzulesen – das übrigens hier nicht so groß war wie an vielen anderen Orten –, wurde gern in Kauf genommen, wenn man merkte, wie das, was man vorlas, die Zuhörenden beeinflusste“, schreibt Moren Vesaas. Der Keim ist die Erzählung von einem Tag auf einer Insel, an dem alles aus den Fugen gerät – und der darauffolgenden Nacht. Nach einer Hetzjagd auf einen Menschen versammelt sich die Inselgemeinschaft in der größten Scheune, um sich mit ihrer Schuld auseinanderzusetzen. Eine düstere Handlung, die von der Beobachtung der Vorgänge in Europa Ende der 1930er Jahre geprägt ist und häufig vor diesem Hintergrund rezipiert wird. Doch, was diesen Text außergewöhnlich macht: Vesaas‘ Interesse gilt nicht allein der Frage, wie es zu einem solchen Gewaltexzess kommen kann, ihm geht es, wie in vielen seiner Texte, um die Verantwortung der Menschen.
Um das Danach. Um die schmerzhafte und ungeschönte Selbstbetrachtung, die zu einer Aufarbeitung führen kann.
Der Roman beschreibt ausführlich die Auseinandersetzung der Figuren, die an der Hetzjagd beteiligt waren – oder diese nicht verhindert haben und nun für immer mit diesem Wissen weiterleben müssen – mit sich selbst und ihrem eigenen Verhalten: „Man sitzt da und wedelt abwehrend mit der Hand, man sagt die Unwahrheit. Ich wusste nicht davon. Das hat es bei mir noch nie gegeben. Es antwortet: Du weißt, das ist nicht wahr. Du hast den Abgrund in deiner Stirn.“ Die inneren Vorgänge der Figuren bilden stets das Zentrum der Texte von Tarjei Vesaas und sie finden ihre Darstellung häufig im Außen, meist in Natur- oder Tiermetaphern. Die formale Klarheit und die starken Bilder machen seine Texte zu einer außergewöhnlichen Lektüre. Als ich durch einen Zufall vor einigen Jahren auf vergriffene deutsche Ausgaben aus den 1960er Jahren stieß, und den Keim las, der in der früheren Übersetzung Nachtwache hieß, fragte ich mich:
Wie kann es sein, dass diese Texte im deutschsprachigen Raum in Vergessenheit geraten sind?
Wenige Monate später erschien mit Das Eis-Schloss beim Berliner Guggolz Verlag die erste Neuübersetzung eines Vesaas-Romans und es begann die längst überfällige Wiederentdeckung seines Werks. Tarjei Vesaas schrieb auf Nynorsk, der Variante der norwegischen Sprache, die dem Altnordischen und den norwegischen Dialekten nahe ist. Der Übersetzer Hinrich Schmidt-Henkel, der inzwischen vier seiner Romane übertragen hat, beschreibt Vesaas‘ besonderen Stil: „Vesaas bringt es fertig, mit diskreten Formulierungen, – die seinen Figuren nie zu nahe rücken, ihnen viel Freiraum lassen – doch sehr tief in ihr Seelenleben einzutauchen und eindringliche Stimmungen zu erzeugen.“ Während im Literaturdiskurs Die Vögel und Das Eis-Schloss meist als seine wichtigsten Texte genannt werden, drängt allen voran Der Keim auf die Bühne, der auch als Roman dramatische Züge behalten hat. Durch die deutschsprachige Erstaufführung von Regisseurin Ruth Mensah wird Vesaas‘ Sprache nun im Theater hörbar, die Welt, von der er erzählt, erfahrbar. An inhaltlicher Dringlichkeit hat Der Keim bis heute nicht verloren, wenn er auf Vessas-typische Weise von der Frage nach der menschlichen Verantwortung angesichts von Entgrenzung und Gewalt erzählt und uns auffordert, innezuhalten und unser Verhalten zu betrachten: „Es galt nicht mehr zu gewinnen, sondern sich selbst bis zum Grunde zu erkennen.“
Veröffentlicht am 31. März 2025.