Zeitkonfetti

Ein Text von Marianne Seidler, freie Dramaturgin und Beraterin beim vom Europäischen Sozialfond geförderten Projekt Frauen Arbeits Welten (FAW) über die Vereinbarkeit von Mutterschaft, Pflege und (Theater-)Arbeit.

Wenn ich über Mutterschaft nachdenke, kommen mir zwei Sachen in den Sinn: das komplett andere Erleben von Zeit und das Betreten völlig neuer Räume, bei gleichzeitiger Verschließung bisheriger Räume und Zugehörigkeiten. Diese Veränderung tritt mit sofortiger Wirkung und unerbittlich ein und ist gekommen, um zu bleiben. Dieses neue Zeitgefühl und auch die neue Verteilung von Zeit und Freiheit kann wissenschaftlich analysiert und greifbar gemacht werden, sehr erhellend geschehen in Alle_Zeit. Eine Frage von Macht und Freiheit von Theresa Bücker. Aus Bückers Erkenntnissen lassen sich direkte gesellschaftspolitische Handlungsempfehlungen ableiten und vor allem erlangt man die tröstliche, aber auch wütend-machende Erkenntnis, dass es sich beim Gefühl des Zeitmangels nicht um eine singuläre, individuelle Erfahrung handelt, sondern um ein strukturelles Problem.

Aber wie genau fühlt sie sich an, diese Mutterschaft? 

Ein Jahr.
Tiefer, matter Schlund.
Eine zähe, graue Masse die am ganzen Körper klebt. Vergiss duschen.
Dazwischen ein Blitz, eine Erinnerung: ja stimmt.
Da ist was kondensiert wenn ich in seine kleinen Augen sehe. Dieses kleine, gigantische Leben. Er blickt in unsere Höhle. Er wohnt jetzt auch hier.

Irgendwo darunter bin ich und sind wir. Fransig. Emsig. Mit Armen, Beinen, Händen die sich immerzu bewegen. Mit Herzen. Immer arbeitend, alles am Laufen haltend.
Deckel drauf. Deckeln, immer so viel deckeln. Nach außen, nach innen, nach drinnen.
Alle sehen, keiner sieht. Allein. Und doch nie allein. Für mich. Für dich. Bin aber sicher, dass wir noch da sind. Wie jetzt die Masse abstreifen? Gegenseitig? Oder kommt da wer?
Die Kleinen werden sich mit Freude füllen. Ist das denn so?

Sorge.
Borge ich gern mal anderen aus.
Ständig was machen und doch nichts tun. Leben am Erleben vorbei. Wenn wir kurz erleben, bin ich schon dabei, das Erleben zu verabschieden. Da hinten steht es und wartet auf mich bis in drei Tagen, drei Monaten?
Das Erleben weiß es nicht. Ich auch nicht.

Diese Zeilen sind ein Jahr nach der Geburt meines zweiten Kindes entstanden, auf der ersten, kurzen Zugfahrt, die ich nach über einem Jahr allein gemacht habe. In meinem Fall hieß das erste Jahr des Babys auch ein Jahr Pflege der Erstgeborenen, die vier Wochen vor der Geburt ihres Bruders chronisch krank wurde. Auf dieser Bahnfahrt, das erste Mal physisch wirklich allein nach einem Jahr, hatte ich den allerersten Moment, um zu spüren, was diese (pflegende) Mutterschaft mit mir gemacht hat. Mit meiner Zeit, meinem Raum und meiner Arbeit. Das erste Jahr mit Baby zerfetzt einem die Lebenszeit. Das ist nicht in jedem Atemzug etwas Trauriges, aber es ist radikal neu. Und Veränderungen können sich dunkel anfühlen.

Die Geburt eines Kindes teilt Zeit anders ein und es entsteht eine ungeahnte Menge an Zeitkonfetti. (Den Begriff prägte die amerikanische Journalistin Brigid Schulte. Sie versteht darunter eine kurze Spanne freier Zeit, aus denen sich keine sinnvoll nutzbaren Zeiten zusammensetzen lassen)

Sorge.

Kommt ein Pflegebedarf dazu, entsteht eine noch größere Entkopplung der Lebensfelder mit Menschen, die keine Sorge-Verantwortung haben. Alle persönlichen Prioritäten ordnen sich neu. Das Gefühl, ständig etwas zu tun, etwas Schlimmeres zu verhindern und dabei dennoch nicht voran zu kommen, nimmt eine neue Dimension an. Eine ganze Palette von früheren Selbstverständlichkeiten erscheinen verunmöglicht. In Ruhe duschen, eine Unterhaltung führen, kochen, arbeiten. An politisches Engagement gar nicht zu denken, obwohl man jede Menge neue Wut spürt. „Zeitnot ist kein Luxusproblem. Mittlerweile ist belegt, dass starke Vereinbarkeitsprobleme die Gesundheit beeinträchtigen können. Menschen, die sich zwischen den Anforderungen von Beruf, Kinderbetreuung und Pflege zerreiben, berichten von geringerer Lebenszufriedenheit und häufiger von depressiven Symptomen und Angststörungen. (Alle_Zeit)

Irgendwo darunter bin ich und sind wir. Fransig. Emsig. Mit Armen, Beinen, Händen die sich immerzu bewegen.

Der Funktionsmodus ist 24/7 on. Der verschwindend geringe Anteil an freier Zeit verfällt zunehmend zu Zeitkonfetti. Als ich nach dem ersten Jahr mal ein paar Stunden am Stück allein für mich hatte, wussten weder mein Geist noch mein Körper, was nun damit anzufangen wäre. Immer mehr dämmerte es mir, dass niemand kommen würde, um meine Lebenszeit wieder zu nutzbaren Anteilen zusammenzusetzen, sondern dass dafür ein Kampf notwendig sein wird. Ein Kampf mit Krankenkassen, Ämtern und der eigenen neuen Gewohnheit. Denn längst hat man sich gewöhnt an die kleine Keimzelle der Familie. Anfänglich ging es nicht anders und nun konnte man gar nicht mehr anders.

Alle sehen, keiner sieht. Allein.Und doch nie allein. Für mich. Für dich.

Um nach der Erfahrung der Mutterschaft Bündnisse und Verbindungen wieder einzugehen, lohnt es sich, Menschen wissen zu lassen, was man braucht. Dass die kleinsten Gesten zum großen Gefühl von Freiheit führen können. In meinen Freundschaften hatte ich dahingehend großes Glück, doch wie vermittelt man festen Kolleg:innen und auch Menschen, die man aus freiberuflichen Kontexten kennt, was sich verändert hat? Was im besten Fall mitgedacht werden sollte, ohne dass man dabei bedürftig herüberkommt obwohl man es ist? Gerade im beruflichen Kontext machen viele kleine Gesten einen großen Unterschied und kleine strukturelle Veränderungen können für Mütter zum Gefühl großer Freiheit führen. Im Bereich der (darstellenden) Künste haben sich Initiativen wie die Bühnenmütter e.V., Art and Care oder Other writers need to concentrate gegründet und leisten Aufklärungsarbeit, sorgen für Sichtbarkeit der Problemlage von Müttern im Theaterbetrieb und bieten auch entscheidende Vernetzungsmöglichkeiten. Was aus meiner Perspektive im Arbeitsalltag aber besonders bedeutend ist, sind Verbündete ohne oder mit wenig Sorge-Verantwortung. Sie können Türöffner:innen und Kompliz:innen sein. Das kann ein Kollege sein, der dir morgens schreibt, was im spontanen Kneipengespräch um 23 Uhr Neues konzipiert wurde, das kann die Kollegin sein, die zu dir nach Hause kommt, um mit dir und deinem Baby Co-Working zu betreiben, ohne, dass du sie extra bitten musst. Das kann ein Mensch im Team sein, der dich mitdenkt, wenn du in Elternzeit bist, es kann eine Chefin sein, die die Zeiteinteilung des Teams an der pflegenden Mutter entlang plant.

Es ließe sich sicherlich ein ganzer Katalog an klein erscheinenden Verhaltensweisen und Möglichkeiten erstellen, die für Sorgende eine große Veränderung wären und Teilhabe möglich machen.

Man möchte meinen, dass sich der Bereich der darstellenden Kunst wenig eignet, um Familie und Beruf unter einen Hut zu bekommen, ich glaube tatsächlich, dass das Gegenteil der Fall ist. Denn in wenig anderen Branchen ist die Flexibilität möglich, die ein Theater möglich machen könnte, in einigen tollen Beispielen auch möglich macht. Neben der Freude am neu entstandenen Leben sind die großen Verluste, die mit (pflegender) Mutterschaft einhergehen, Zeit und Teilhabe. Beides bekommen wir nicht einfach wiedergeschenkt, wir müssen sie uns erkämpfen. Und dafür brauchen wir Verbündete. Sie können möglich machen, dass aus meinem Konfetti wieder ein zusammenhängendes Papier entsteht, auf das ich meine Gedanken schreiben kann.

Veröffentlicht am 8. März 2025.