Zur Erinnerung an Margit Carstensen

Margit Carstensen gehörte unter Kurt Hübner zum Ensemble des Theaters und kehrte Anfang der 90er Jahre nochmal für eine Spielzeit zurück. Die leitende Dramaturgin im Musiktheater, Brigitte Heusinger, saß zu Hübners Zeit hier im Publikum. Zum Tod der großen Schauspielerin eine Erinnerung.

Es gab nur zwei Berührungspunkte mit Margit Carstensen und mehr als Fan war ich nie. Aber ich war Fan. Mein Fan-Sein begann vor vielen Jahren hier im Theater am Goetheplatz. Es war 1971, ich war Schülerin, und besuchte die Vorstellung der Bremer Freiheit. Regie: Rainer Werner Fassbinder. Ich erinnere mich daran als sei es gestern. Margit Carstensen trippelte im engen Rock, kleinschrittig, auf lauten Absätzen quer über die ganze Bühne. Sie brachte ihrem Bühnen-Ehemann – wie verlangt – einen Kaffee. Ihr Ehemann – er wusste es da noch nicht – musste wie viele andere bald daran glauben, denn Carstensen spielte Gesche Gottfried, die legendäre Bremer Massenmörderin, deren Kopf bei der Hinrichtung eben auf diesen markierten Stein neben dem Dom fiel, auf den bis heute erstaunlicherweise gespuckt wird.

Dieser Gang von Magrit Carstensen hat sich tief in mich eingegraben. Er war so devot, so schrecklich devot, dass er wieder aufsässig war.

Die Tasse auf dem Tablett klirrte. Auch das ein Protest, der so extrem indirekt war, dass ich mich gleich verliebt habe in dieses Theaterzeichen. Etwas mit dem totalen Gegenteil ausdrücken – wahnsinnig wunderbar. Diese Frau, die immer wie ein gespannter Flitzebogen total ruhig war und diese Stimme, so fremd surrend angehaucht, dass sie einen suggestiv reinzog ins Zuhören. Einfach seltsam. Die Stimme höre ich heute noch, aber ich höre auch einen Satz ihres Bühnenpartners: „Gesche (lange zurechtweisende, empörte Pause) Gesche, die Liebe ist für die Nacht.“

Ja, auch mein zweites Erlebnis hatte was mit Erotik zu tun oder vielmehr mit der Angst davor.

Es muss kurz danach gewesen sein. Ich wollte ins Cinema, ins Ostertor. Meine Mutter war dagegen: Es war spät, das Viertel vermeintlich gefährlich und sie hatte wohl etwas im Weser-Kurier über den neuesten Film von Rainer Werner Fassbinder Die bitteren Tränen der Petra von Kant gelesen: Es ging um lesbische Liebe. Ein Pubertätsstreit für mein Recht auf Kultur, den ich gewonnen habe. Keine Ahnung, was ich damals empfand, aber ich sehe auch hier die Bilder: eine total ergebene Irm Hermann, die endlos Manuskripte abtippt und die man oft durch eine Jalousie sieht, eine lasziv gelangweilte Hanna Schygulla als Geliebte und die rotzige Eva Mattes als Tochter. Und als Zentrum, von ihrem Bett aus dirigierend, Margit Carstensen. Ein Raum in einem kleinen Haus in Worpswede, in dem – so hieß es – in der Pause der Theaterproben gedreht wurde. Michael Ballhaus an der Kamera. Bescheidene Mittel und viel Kunst. Ein Familienporträt – mit damals noch ungewohnter Geschlechterverteilung, und ja wahrscheinlich auch ein Spiegel der Fassbinder-Familie.

Jetzt war Margit Carstensen in der konträren Rolle, als Diva, als die Figur, von der alle abhängig waren, nach deren Liebe alle dürsteten.

Verführerisch durch gedehnte Zeit, durch das prätentiöse Zelebrieren von Gesten, wahnsinnig weiblich, und doch so männlich, so machtmännlich. Und dann entgleitet alles, liebt und verliert und zieht uns rein in ihren Mut zur Hässlichkeit, ins Zerstörtsein, zur puren Existenz, in die griechische Tragödie. Dazu der Soundtrack: In my Room von den Walker Brothers, (auch den höre ich dann und wann). Kein anderer Song. Viel Pathos, so viel Größe in einem kleinen Raum in der Worpsweder Provinz.

 

Auf den Bildern oben ist Margit Carstensen in der Mitte zu sehen in der Fassbinders Inszenierung Bremer Freiheit von 1971 und links und rechts davon in der Inszenierung Helena von Hansgünther Heyme im Jahr 1992.